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von
Ralf Nebhuth
Wolfgang M. Stroh
Musik und Bildung 1/1990
S. 21-25 |
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Thema
Szenische Interpretation von Opern
- wieder eine neue Operndidaktik?
Die „Ganzheitlichkeit" der Oper ist die Ursache
für die zentralen didaktischen Probleme mit dieser
Gattung. Didaktik zerlegt in Lernschritte, vereinfacht,
bereitet zu und auf... Nicht die Lehrer/innen, sondern
die Schüler/innen sollen die didaktisch aufbereiteten
Teile in ihrem Kopf und Bauch wieder zusammensetzen! Kein
Wunder, dass letztere auf ihre Art rebellieren: sie haben
Probleme mit der auf emotionale Wirkung zielenden Intention
von Opern (weil man in der Schule cool zu sein hat und
Emotion Privatsache ist), sie haben Probleme mit der spezifischen
Sinnlichkeit von Opern (weil diese an die für Jugendliche
produzierte Sinnlichkeit populärer Musik erinnert)
und sie haben Probleme mit musikalischen Verfremdungseffekten
(zum Beispiel dann, wenn ein Heldentenor drei Minuten
lang singend stirbt).
In dieser Situation stellt die Szenische Interpretation
von Opern den Versuch dar, Opern mit Schüler/innen
ganzheitlich zu erarbeiten, um damit dem Anspruch der
Gattung und der Intention aller, die an der Produktion
von Opern beteiligt sind, gerecht zu werden. Die Methoden
der Szenischen Interpretation sind aus den Methoden, mit
denen sich Darsteller/innen und Musiker/innen Opern selbst
erschließen, heraus entwickelt: Ingo Scheller hat
sich in seinen Begründungen des szenischen Spiels
als Lern- und Erkenntnisform ausdrücklich auf die
Theaterarbeit von Brecht, Stanislawski und Boal bezogen
(Scheller, 1982, 1984 [1], 1987 [1]). Eine Kernidee ist
hierbei, dass sich im Theater dargestellte und die wirkliche
Wirklichkeit durchdringen und - vermittelt über die
Persönlichkeit des handelnden Menschen, ausgedrückt
vor allem in der jeweiligen Körperhaltung - strukturell
entsprechen. Was sich auf der Bühne und im Orchestergraben
abspielt, ist nicht nur Präsentation eines fiktiven
Problems, sondern immer auch ein Stück Lebenswirklichkeit
von Darsteller/innen und Publikum.
Die Szenische Interpretation von Opern ist die Anwendung
einer Reihe von Methoden des szenischen Spiels auf den
Lerngegenstand „Oper". Dies bringt entscheidende
Besonderheiten mit sich. Während das szenische Spiel,
wie ich es früher dargestellt habe (Stroh, 1982,
1985), sich direkt mit der Lebenswirklichkeit von Schüler/innen
auseinandersetzt - mit Themen wie „Starkult",
„Disko", „Liebe" - ist die Szenische
Interpretation von Opern ein Verfahren zum Verstehen („Interpretieren")
von bereits angeeigneter Wirklichkeit, d.h. mit künstlerisch
interpretierter Wirklichkeit. Oper ist „Wirklichkeit
aus zweiter Hand". Die Szenische Interpretation dieser
Wirklichkeit aus zweiter Hand hat zum Ziel |
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die hinter dieser Wirklichkeit aus
zweiter Hand stehende „erste" Wirklichkeit
zu verstehen, |
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die spezifische Art, wie die „erste"
Wirklichkeit angeeignet worden ist, nachzuvollziehen,
und |
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die in die Wirklichkeit aus zweiter Hand hineingewobene
heutige Lebenswirklichkeit zu erfahren. |
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Während die Verknüpfung der
Wirklichkeit aus zweiter Hand mit der heutigen Lebenswirklichkeit
aufgrund der bereits erwähnten Kernidee (um nicht
zu sagen: Arbeitshypothese) des szenischen Spiels geleistet
ist, ist das Verstehen der „ersten" Wirklichkeit
in der Wirklichkeit aus zweiter Hand eine der Hauptaufgaben
der Szenische Interpretation. Und hierin liegt die besondere,
emanzipatorische Chance: Die Wirklichkeit aus zweiter
Hand rückt sowohl die „erste", als auch
die heutige Lebenswirklichkeit in eine gewisse Distanz,
aus der heraus es den Beteiligten möglich ist, anders
- vielleicht angstfreier, kritischer, souveräner,
weniger rollenfixiert, unkonventioneller, kreativer, konkurrenzloser,
von Leistungsdruck befreit - mit Wirklichkeit umzugehen.
Carmen, um ein Beispiel zu nennen, ist eine Figur und
ein Stück Wirklichkeit, an der Jugendliche, wie Erfahrungen
gezeigt haben, eigene Rollenprobleme, Sehnsüchte,
Ängste und Wünsche in einer Weise „veröffentlichen"
können, wie sie es sonst kaum tun würden - und
zwar tun sie das nicht, indem sie über ihre Probleme
usw. sprechen, sondern indem sie sich als Carmen darstellen.
Planung und Durchführung einer
Szenischen Interpretation
Im folgenden stellt Ralf Nebhuth seine Arbeitsweise dar.
Er ist Spielleiter im Fortbildungsprojekt „Szenisches
Spiel als Lernform" an der Universität Oldenburg.
Im ersten Schritt sichten wir Dokumente rund um die Oper
und interessieren uns für die Biographie des Komponisten
(etwa anhand der „Texte. Materialien. Kommentare"
bei rororo/Ricordi). Wenn das Libretto eine andere als
die Entstehungszeit reflektiert, so suchen wir möglichst
viel Information über das Alltagsleben der Menschen
jener Zeit. Alle weiteren Arbeitsschritte ergeben sich
aus diesem Material, das so anschaulich wie möglich
sein sollte.
Wir versuchen dann eine Auslegung des Materials in bezug
auf zwei Fragen: 1. Welches historische „Grundthema"
ist im Opernstoff enthalten? und 2. Welche biographischen
und sozialgeschichtlichen Ereignisse könnten die
kompositorische Tätigkeit bestimmt haben und für
eine Interpretation von Bedeutung sein? (In Mozarts Figaro
sahen wir als Grundthema den positiven Entwurf des Individuums
als Ausdruck der überlegenen Vernunft über eine
marode Standesgesellschaft vor dem Hintergrund von Mozarts
Logenzugehörigkeit in Wien unter dem aufgeklärten
Absolutismus Josephs II. In Carmen hingegen die romantische
Sehnsucht des Bürgers nach „dem Natürlichen"
als Grundthema und Bizets vergeblichen Versuch, ein großes
musikalisches Werk zu schaffen, das ihn in Paris als Genie
ausweisen würde.)
In einem dritten Schritt stellen wir uns die Frage, welche
aktuellen Lebensprobleme heutiger Jugendlicher mit dem
„Grundthema" etwas zu tun haben. Wir formulieren
schülerbezogene Fragestellungen, die die spätere
Szenische Interpretation - Szenenauswahl, Methodenauswahl,
Reflexionsphasen - entscheidend prägen. Zum Beispiel:
„Intrige und Vernunft - zwei Wege zur Macht?"
bei Figaro, „Die Ohnmacht des Mannes und die Stilisierung
der Frau zur Natur" in Carmen, „Was ist normal`
in einer Gesellschaft?" bei Wozzeck.
Entlang dieser Fragestellungen suchen wir aus dem Repertoire
des szenischen Spiels Verfahren, mit denen sozialhistorische
Hintergründe (1. Schritt) und das Grundthema (2.
Schritt) bearbeitet werden können. Die Verfahren
sollen weiterhin die kompositorische Intention des Komponisten,
die Funktion der Musik und deren Wirkung verdeutlichen.
Die einzelnen Verfahren werden drei Bereichen zugeordnet:
der Einfühlung, der szenischen Arbeit an sog. Kernszenen
und der musikalisch-szenischen Reflexion."
Die zuletzt angesprochenen Methoden-Bereiche sollen im
folgenden noch etwas ausführlicher besprochen werden,
obgleich sie praktische Erfahrungen (in Fortbildungsveranstaltungen)
und konkretes Unterrichts-Anschauungsmaterial (vgl. Brinkmann,
Nebhuth, Stroh, 1990) nicht ersetzen können. Die
Klasse (Lerngruppe) sollte sich mindestens 6 Doppelstunden
mit einer einzigen Oper auseinandersetzen. Die Schüler/
innen durchlaufen die gesamte Unterrichtseinheit in bestimmten
Rollen, beobachten und beurteilen andere Figuren aus dieser
Sicht und nehmen die Musik aus dieser Perspektive wahr.
Die Einzelrolle ist dabei meist Teil eines ausgeprägten
Kollektivs. Zur Charakterisierung dieser Kollektive können
weitere Personen bzw. Rollen dazuerfunden werden. Die
Phase der Rollenvergabe wird abgeschlossen durch Herrichten
des Raumes, durch Verkleiden, Schminken usw.
Auf diese Vorbereitungen folgt die sog. Einfühlung.
Ihr Ziel ist es, dass alle Schüler/innen einen klaren
Rollenstandpunkt entwickeln. Die Einfühlung kennt
viele Verfahren, die von Inhalt, Form und Stil der jeweiligen
Oper abhängen. Fast immer bekommen die Kollektive
eine markante, singbare Melodie und die Einzelfiguren
eine prägnante Musikstelle auf Kassette (die über
einen Walkman zu hören ist). Zu dieser „Rollenmusik"
sind Gehhaltungen, Gesten, charakteristische Worte, Körperhaltungen,
Singweisen usw. zu entwickeln. Auf Karteikarten erhalten
alle Beteiligten Angaben zur Person: „Du bist Alfonso,
l9 Jahre, wohnst bei Deinen Eltern in einem Vorort von
Barcelona..." Aus diesen Personenangaben sollen die
Schüler/innen in Verbindung mit den zuvor geübten
Haltungen und Gesten eine Rollenbiographie entwickeln.
Schließlich wird die einzelne Rolle vorgeführt,
meist in einer charakteristischen Situation in Verbindung
mit der vorgegebenen Musik (z. B. probiert Susanna im
Figaro ihren neuen Hut an...). Die Kollektive stellen
sich vor, indem sie in besonders arrangierten Szenen mit-
oder gegeneinander ansingen (in Carmen Soldaten gegen
Arbeiterinnen, im Figaro standesgemäß tanzende
Gruppen, im Wozzeck Unterschichtsfrauen gegen vorbeimarschierende
Soldaten).
Nach der allgemeinen Einfühlung, die über mehrere
Stunden gehen kann werden Szenische Interpretationen ausgewählter
Kernszenen durchgeführt. Hier sollen die Schüler/innen
zu charakteristischen Teilen der Oper szenische Phantasie
entwickeln: zur dramatischen Grundkonstellation, zum zentralen
Konflikt, zum dramatischen Höhepunkt, zur Auswirkung
des Konflikts bzw. zur Konfliktlösung. Im Verlauf
dieser szenischen Arbeit kehren gewisse Standardverfahren
immer wieder: |
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Vor Beginn einer jeden Spieleinheit
werden alle Beteiligten kurz in die Situation „eingefühlt",
indem der die Musiklehrer/in hinter jede Person
tritt und sie nach Erwartungen. Gefühlen usw.
bezüglich der folgenden Szene fragt, wobei
charakteristische Musik eingesetzt werden kann. |
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Die Schülerrinnen können Szenen frei
gestalten, einen vorgegebenen Text lesen oder zu
einem eingespielten Text (bei Opern in Verbindung
mit Musik!) szenisch agieren. |
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Alle nicht Beteiligten beobachten das Geschehen
und kommentieren es von ihrer Rolle her. Sie haben
- je nach Absprache - gewisse Eingriffsmöglichkeiten,
können den Spielverlauf unterbrechen, neue
Aktivitäten vorschlagen, den Verlauf „zurückspulen",
Haltungen korrigieren, selbst in die Szene eintreten,
eine Befragung durchführen usw. |
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Jede Spieleinheit endet mit einer „Ausfühlung"
aller Spielenden. Wieder werden sie nach ihrer gegenwärtigen
Gefühlslage, nach ihren Erfahrungen und Hoffnungen
usw. befragt. Die Antworten können verbal oder
musikalisch geäußert werden. |
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Im Wechsel mit Phasen der Szenischen
Interpretation werden Phasen der musikalisch-szenischen
Reflexion durchgeführt. Es geht hier um die gezielte
Auseinandersetzung mit dem Zusammenwirken von Szene, Wort
und Musik. Die szenische Phantasie soll die musikalische
Phantasie der Schüler/innen beflügeln, denn
es ist in aller Regel einfacher, szenische Ideen zu entwickeln
und darzustellen als musikalische Ideen.
Hier einige Beispiele: |
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Zu Musik wird ein Spielablauf inszeniert.
Durch Pantomimen und Gesten wird die Musik „dargestellt".
Standbilder, d. h. modellierte Gruppierungen von
Figuren in charakteristischen Haltungen und Beziehungen
können zur Musik entworfen werden - sowohl
global zu ganzen Abschnitten als auch punktuell
bezogen auf kurze Passagen oder Situationen. |
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Der szenischen Improvisation zu vorgegebener Opernmusik
korrespondiert die musikalische Gruppenimprovisation
zu vorgegebenen Szenenabläufen. |
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Wie das Standbild einen szenischen Ablauf, „einfrier",
so kann umgekehrt im „Musik-Stop-Verfahren"
die Musik angehalten werden, bis eine neue szenische
Konstellation erstellt ist. |
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„Phantasie-Reisen" zu Musik, die im
weiteren Verlauf mit dem Operninhalt konfrontiert
werden. |
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Improvisierte Rezitative: der Text wird rezitativisch
vorgetragen - einzeln und kollektiv. |
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Insgesamt könnten diese Verfahren
dadurch charakterisiert werden, dass musikalische und
szenische Gruppenimprovisationskonzepte aus den Situationen
der Oper heraus entwickelt werden.
Jede Spieleinheit wird in einem Feedback besprochen und
ausgewertet. Hierfür kann es inhaltliche Fragestellungen
geben, es kann aber auch ein reines Blitzlicht durchgeführt
werden, wobei alle Beteiligten kurz mitteilen, wie sie
sich im Augenblick fühlen, ohne dass irgendwelche
Diskussionen oder Fremdkommentare erlaubt sind. Das rein
gruppenbezogene Feedback mündet oft in weiterführende
Gespräche über die Oper, den Komponisten, die
Funktion der Musik. Hier können Hörvergleiche
angestellt oder umfangreichere Musikpassagen angehört
werden. Hier haben auch die musikimmanente Analyse und
der Musikgeschichtsunterricht ihren Platz.
Szenische Interpretation als Integratives
Konzept
Als „ganzheitliches" operndidaktisches Konzept
integriert die Szenische Interpretation von Opern eine
Reihe operndidaktischer Positionen, die heute in der Diskussion
sind und die über die übliche Werkbetrachtung
hinausgehen. Erwähnt seien fünf solcher Positionen:
1. Die kritische Erkundung der Institution „Oper"
und dessen, was sich in dieser Institution abspielt.
Ziel eines Unterrichts, der auf diesem Ansatz aufbaut,
ist es, die Schüler/innen letztendlich anzuregen,
es doch (noch) einmal mit einem Opernbesuch zu versuchen
(exemplarisch: Albert/ Lagerstein, 1981).
Die Szenische Interpretation von Opern geht, wie gesagt,
davon aus, dass in Opern Wirklichkeit angeeignet worden
ist und dass man sich in der Schule mit dieser Art Wirklichkeitsaneignung
auseinandersetzen sollte. Die Form dieser Aneignung ist
aber nicht nur mit musikalischer Formenlehre und Stilgeschichte,
sondern auch durch eine Analyse des Opernbetriebs, welcher
Inszenierung und Publikumsversorgung hervorbringt, zu
fassen. Daher wird die Szenische Interpretation von Opern
immer auch eine Auseinandersetzung mit der Institution
„Oper" sein müssen. Die oft in Feedback-Phasen
des Unterrichts diskutierte Frage, warum ein Komponist
eine gewisse musikalische Darstellung eines Konflikts
oder eine Rolle gewählt hat, ist meist verknüpft
mit der Frage, warum diese Art der Darstellung ein historisches
und ein heutiges Publikum ansprechen, bewegen, erregen,
erfreuen oder überzeugen kann.
2. Oper als multimediale Erfahrung, als spezifische Art
des Ineinanderwirkens von Wort, Ton, Bild, Bewegung, Szene.
Ziel eines Unterrichts, der auf diesem Ansatz aufbaut,
ist es, die Schüler/innen exemplarisch für ein
in den heutigen Medien zentrales Phänomen zu sensibilisieren.
In diesem Zusammenhang werden Opernplakate untersucht
(SchmidtBrunner, 1980, 1982; Wagner, 1988) oder Bilder
von Inszenierungen verglichen (Srocke, 1988); selbst die
Analyse von Videos oder Musikfilmen kann in methodische
Nähe dieser Art Opernanalyse treten.
Die naheliegendste „multimediale" Erfahrung
im Zusammenhang mit Opern ist allerdings weniger das Betrachten
von Plakaten, Fotos oder Videos, sondern die Inszenierung
von szenischen Elementen der Oper selbst. In der Szenischen
Interpretation spricht nicht nur der Mund, sondern auch
der Körper, die Haltung, die Geste, die Bewegung,
die (Ver-)Kleidung, die Bemalung, die Spielumgebung, der
Umgang mit Requisiten usw. In der Szenischen Interpretation
wird allen „multimedialen" Nebensächlichkeiten
das Gewicht eines unverzichtbaren Bestandteils des Ganzen
beigemessen.
3. Die Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten von
Sprechen und Sprache.
Ein Unterricht, der auf diesem Ansatz aufbaut, hat das
Ziel, die Kommunikationsfähigkeit der Schüler/innen
zu steigern. Die Gattung Oper dient als ein Reservoir
interessanter und ungewohnter Sprachgesten, Singhaltungen,
Lautbildungen usw. (vgl. hierzu Klussmann, 1982; Richter,
1982/83; Sievritts, 1984).
Die Szenische Interpretation von Opern rückt die
aktive sprachliche Gestaltung von kommunikativen Situationen
in den Mittelpunkt des Unterrichts. Nicht allein mit Sprech-
und Singhaltungen und -gesten, sondern auch mit Körper„sprache"
wird experimentiert. Ein wichtiges Ziel der Szenischen
Interpretation ist das genaue Beobachten, die Selbsterfahrung
sprachlicher Kompetenz und die kollektive Reflexion der
Wirkung sprachlicher Äußerungen. Die aktive
Gestaltung kommunikativer Situationen entfaltet sich dabei
nicht voraussetzungslos, sondern in der Auseinandersetzung
mit der jeweiligen Oper.
4. Opern als zeit- und sozialgeschichtliche Dokumente.
Diese Eigenschaft von Oper macht sich der sozialhistorische
Ansatz der Operndidaktik zunutze. Indem der reale historische
Hintergrund des Operngeschehens und die Entstehungs-,
ja Rezeptionsgeschichte dargelegt wird, lernen die Schüler/innen
Kunst als Zeitdokument kennen (vgl. HodekISchutte, 1981;
von Heyl, 1988; Lugert, 1986).
Ingo Schellers Begründung der Szenischen Interpretation
von Dramen ist ursprünglich eine sozialhistorische:
„Szenische Interpretation ist der Versuch, die in
Dramentexten skizzierten sozialen Situationen, die sprachlichen
Äußerungen von Figuren als Teil eines sozialhistorisch
verortbaren Lebenszusammenhangs zu verstehen... [Die Dialoge
der Dramen müssen] so konkret wie möglich in
sinnlich wahrnehmbare Szenen und Haltungen als Teil und
Ausdruck historischer Subjekte und Personen verstanden
werden können" (Scheller, 1985, S. 442). Szenische
Interpretation ist also nicht voraussetzungslose Selbsterfahrung
der Schüler/innen, bei denen künstlerisch gestaltetes
Material mehr oder weniger funktionalisiert wird. Eine
gute Szenische Interpretation ist vielmehr das selbsterfahrende
Verstehen anderer (auch historischer) Subjekte.
5. Opernstoffe als Ansatzpunkte für die Auseinandersetzung
mit aktuellen Lebensproblemen der Schüler/innen.
Ziel eines Unterrichts, der von diesen Voraussetzungen
ausgeht, ist es, dass sich die Schüler/innen anhand
der Oper mit höchstpersönlichen Lebensproblemen
auseinandersetzen (vgl. alle unter Punkt 4 genannten Publikationen).
In der Szenischen Interpretation findet der schülerorientierte
Übertragungseffekt ganz von selbst statt. Er muss
nicht eigens inszeniert werden. Die Methoden des szenischen
Spiels sind so schülernah, weil - wie die Grundthese
lautete - gespielte und „wirkliche" Wirklichkeit
einander durchdringen, sich entsprechen. Die problem-
und erfahrungsbezogene Schülerorientierung ist kein
besonderes Ziel der Szenischen Interpretation, sondern
eine Selbstverständlichkeit. Die Auswahl der Opernstoffe
findet sicherlich zunächst unter pragmatisch-methodischen
Gesichtspunkten statt, mündet aber mit einiger Sicherheit
bei Inhalten, die auch sonst im problemorientierten Unterricht
herangezogen werden. (In den Oldenburger Unterrichtsversuchen
wurden nicht von ungefähr Carmen, Wozzeck, Figaro
und die Dreigroschenoper ausgewählt.)
Obgleich die Szenische Interpretation nicht als ein integratives
Konzept entwickelt, sondern aus einer besonders erfolgreichen
Methode des „erfahrungsbezogenen Unterrichts"
(Scheller, 1981) abgeleitet worden ist, erweist sie sich
doch im nachhinein als ein methodisch akzentuierter und
viele Konzepte zusammenfassender Ansatz. So kommt es,
dass viele Musikpädagoginnen/en sagen: Auch dies
ist nichts wirklich Neues unter dem Himmel. Wir meinen:
Das spricht nicht gegen die Szenische Interpretation.
Zitierte Literatur
C. Albert und E.-M. Lagerstein: Die Oper als soziale Tatsache,
Stuttgart 1981 (Don Giovanni)
R. Brinkmann und R. Nebhuth: Szenische Interpretation
von Opern, Oldenburg 1988 (= Oldenburger Vor-Drucke 49/88;
Carmen)
R. Brinkmann, R. Nebhuth und W. M. Stroh: Szenische Interpretation
von Opern. Unterrichtsmaterialien: Heft 1 Carmen, Heft
2 Figaros Hochzeit, Heft 3 Wozzeck, Oldershausen 1990
C. Gräber: Szenische Interpretation von Brecht/Weills
„Dreigroschenoper" (Examensarbeit), Oldenburg
1985
A. von Heyl: „Die ,West-Side-Story` im Unterricht",
in: Musik und Bildung 2/88, S. 110ff.
J. Hodek und S. Schutte (Hrsg.): Musiktheater. Musik und
Wirklichkeit in der Oper, Stuttgart 1981. Studienreihe
Musik (= Figaros Hochzeit, Dreigroschenoper, Porgy and
Bess)
M. Klussmann: „Oper im Unterricht. Ein Versuch zum
Verständnis des singenden Menschen", in: Musik
und Bildung 9/ 82, S. 546 ff.
W. D. Lugert: Musik hören, machen, verstehen. Arbeitsbuch
für den Musikunterricht in den Klassen 9 /0, Stuttgart
1986
C. Richter: Hermeneutische Grundlagen der didaktischen
Interpretation von Musik. Dargestellt am Tristanvorspiel,
in: Musik und Bildung 11/83, S. 22 ff. und 12/83, S. 20
ff. Dazu: M. Sievritts, W. M. Stroh und C. Richter, in:
Musik und Bildung 6/84, S. 436; S. 440 und S. 444
I. Scheller: Erfährungsbezogener Unterricht, Königstein
1981
Ders.: „Arbeit an Haltungen oder: Über Versuche,
den Kopf wieder auf die Füße zu stellen - Überlegungen
zur Funktion des szenischen Spiels", in: R. Scholz
und P. Schubert (Hrsg.): Körpererfahrungen, Reinbek
1982
Ders. zus. mit R. Schumacher: Das szenische Spiel als
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Ders.: „Szenisches Spiel", in: Enzyklopädie
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Ders.: „Szenische Interpretation von Dramentexten",
in: G. Stölzel (Hrsg.): Germanistik - Forschungsstand
und Perspektiven. Teil 1, Berlin/New York 1985. Auch in:
Scheller 1987
Ders. zus. mit A. Bartels u. a.: Das .szenische Spiel
als Lernform in der Sonderschule, Oldenburg 1987
Ders.: Szenische Interpretation: Georg Büchner: Woyzeck.
Vorschläge, Materialien und Dokumente zum erfahrungsbezogenen
Umgang mit Literatur und Alltagsgeschichte(n), Oldenburg
1987
W. Schmidt-Brunner: „Opernplakate: Interpretationen
- Thesen - Didaktische Ansätze", in: Musik und
Bildung 9/ 82, S. 564ff.
Ders.: „Mozarts Don Giovanni`. Materialien zu einer
Unterrichtssequenz für die Sekundarstufe II: Musik
und Regie - Regie und Dramaturgie - Programm und Plakat",
in: Musik und Bildung 1/80, S. 12 ff.
M. Srocke: „,Wenn ich malen könnte!` Unterrichtsreihe
zu einer Opernbesprechung unter Einbeziehung des Bühnenbildes",
in: Musik und Bildung 2/88, S. 128117.
W. M. Stroh: „Szenisches Spiel im Musikunterricht",
in: Musik und Bildung 6/ 82, S. 403 ff.
Ders.: „Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenen
Unterricht", in: H. G. Bastian (Hrsg.): Umgang mit
Musik, Laaber 1985 (= Musikpädagogische Forschung
Band 6)
Ders.: „Männer sind alle gleich! Ein Popsong
aus dem Jahre 1728", in: Populäre Musik im Unterricht,
Heft 26, 1989 (The Beggar's Opera)
F. Wagner: „Oper in den Blick gerückt ,Das
Opernplakat und die Inszenierung als Unterrichtsgegenstand"`,
in: Musik und Bildung 2/88, S. 117 ff.
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direkt beim Zentrum für Pädagogische Berufspraxis,
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