|
|
von
Wolfgang M. Stroh
Musik und Bildung 3/1999
S. 8 -15 |
|
|
Thema
Handlungstheorien - Von der Tätigkeitspsychologie
zur Szenischen Interpretation
Zur Orientierung
In den ersten wichtigen Konzeptionen eines handlungsorientierten
Musikunterrichts stand das Phänomen der musikalischen
Kommunikation und folglich das Leitziel des "Hörens
und Verstehens" von Musik im Zentrum wissenschaftlichen
Interesses. Unaufhaltsam hat sich sowohl in der Praxis
des Musikunterrichts, als auch in der didaktischen Begleitreflexion
inzwischen ein Paradigmenwechsel vollzogen, infolgedessen
auch das Leitbild des Hörens und Verstehens an Kraft
verloren hat. Der Handlungsbegriff erlebt zwar in einer
popularisierten Form eine musikpädagogische Nachblüte,
zugleich steckt er als theoretische Kategorie in einer
Krise. Hans Bäßlers "Überlegungen
zu einer an sich selbstverständlichen Voraussetzung
des Musikunterrichts" im Themenheft "Handeln?
Handeln!" von Musik und Bildung 6/1998, seine Schilderung
zur Entstehung des Themenheftes sowie sein Versuch, Handlungsorientierung
und Erfahrungsbezogenheit miteinander in einem "vorläufigen
Fazit" zu verschmelzen, lassen sich als einen Abgesang
auf theoretische Fundierung handlungsorientierer Didaktik
lesen.
Ich möchte daher im Folgenden |
|
|
den musikpädagogischen Handlungsbegriff
in einen theoretischen Rahmen stellen, der in der
Lage ist, |
|
den musikpädagogischen Paradigmenwechsel,
der sich zur Zeit abspielt, unter Beibehaltung seines
"Aussagen-Systems" zu überstehen,
um schließlich |
|
an einem wichtigen methodischen Beispiel Konsequenzen
und Perspektiven aufzuzeigen. |
|
|
1. Theoretischer Rahmen für
die musikpädagogische Handlungsorientierung: die
Psychologie musikalischer Tätigkeit
"Die Handlungstheorie gründet auf der Tätigkeitspsychologie
der sowjetischen Psychologen (Rubinstein, Leontjew), von
denen das Modell dialektischer Widerspiegelung zwischen
Umwelt und Mensch stammt", schreibt Rolf Oerter 1985
in der ersten Ausgabe von "Musikpsychologie. Ein
Handbuch in Schlüsselbegriffen" (Oerter 1985,
20). Dies Handbuch erschien mit einem auf Oerter zurückgehenden,
programmatisch "handlungstheoretischen Ansatz"
(S. 3-11) zeitgleich mit Helga de la Motte-Habers "Handbuch
der Musikpsychologie", das - als Gegenentwurf - der
Kognitionspsychologie verpflichtet war.
In den 80er Jahren wusste (fast) jeder, dass das von Oerter
den Psychologen Leontjew und Rubinstein in den Mund gelegte
Modell von Karl Marx stammt und die Grundthese des dialektischen
Materialismus darstellt. Offensichtlich waren die westdeutschen
Handlungstheoretiker entweder danach bestrebt, den Faden
zur Sowjetpsychologie abzuschneiden, oder aber sie mussten
sich mit der Tatsache auseinander zu setzen, dass der
Begriff "Tätigkeit" dort, wo er nicht en
passant sondern als Leitbegriff auftauchte, zur westdeutschen
"Kritischen Psychologie" Klaus Holzkamps und
zur "Marxistischen Psychologie" der DDR führte.
Im Westen konnten Interessierte die Diskussion um "Tätigkeitspsychologie"
und "Marxismus" in der Zeitschrift für
Philosophie und Sozialwissenschaften "DAS ARGUMENT"
mit regelmäßigen Heften zur "Kritischen
Psychologie" und von links-kritischer Gegenseite
in "Psychologie und Gesellschaft" verfolgen.
Beide Zeitschriften erscheinen heute noch mit weit gehend
gleich gebliebenen (Gegen-)Positionen.
Da die DDR-Musikpädagogik vollauf damit beschäftigt
war, den sozialistischen Realismus zu lehren, das fortschrittliche
Erbe bürgerlicher Musik zu bewahren und Lieder parteilich
zu singen, war sie musikpsychologisch "blockiert"
und entwickelte keine zusammenfassende Darstellung einer
tätigkeitspsychologisch fundierten, handlungsorientierten
Musikpädagogik. Ich selbst habe anlässlich meiner
Tätigkeit an den Bielefelder Schulprojekten 1973-78
Elemente der Tätigkeitspsychologie zunächst
entlang der aktuellen Diskussion um "musikalische
Kommunikation" auf musikpädagogische Fragen
übertragen (Stroh 1979), weil wir - das waren Rudolf
Nykrin, Georg Krieger und ich - seinerzeit unter der Leitung
Hartmut von Hentigs selbstverständlich "handlungsorientiert"
und "erfahrungsbezogen" Musik unterrichteten.
Auf die Musikpsychologie übertragen habe ich das
System im Zusammenhang mit der Frage, wie "politisch"
die neu aufkommende Rock-Didaktik sein (Stroh 1981) und
wie das kreative Potential "alternativer Musikpraxis"
genutzt werden kann (Stroh 1984).
Im Rahmen der Tätigkeitspsychologie erhält der
Begriff Handlung eine dem Begriff Tätigkeit untergeordnete
Bedeutung: Handlungen "realisieren" eine Tätigkeit,
sind aber nicht Tätigkeit. Diese Unterscheidung bewirkt,
dass Begriffe wie Motiv, Bewusstsein, Persönlichkeit
und Handlungsziel eine andere Bedeutung als in jenen Handlungstheorien
bekommen, die "Tätigkeit" lediglich als
eine von "drei Ebenen des Begriffs Handlung"
interpretieren (Oerter 1993, 261-262) oder die Hierarchie
von Tätigkeit und Handlung benennen, ohne theoretische
Konsequenzen zu ziehen (Ribke 1978, 107).
Ich möchte zunächst jene 10 Aussagen der "Psychologie
musikalischer Tätigkeit" zusammenstellen, die
für eine tätigkeitspsychologische Fundierung
musikpädagogischer Handlungsorientierung von Bedeutung
sind:
Grundzüge der Psychologie musikalischer Tätigkeit
Bezugsbegriff für Musikpädagogik
ist nicht "die Musik", sondern der musikalisch
tätige Mensch. Nicht aus einer Analyse von Musik,
sondern aus einer Analyse der musikalischen Tätigkeit
können Handlungsanleitungen deduziert werden.
Diese Aussage hat die Tätigkeitspsychologie mit anderen
Handlungstheorien gemeinsam. Die Tätigkeitspsychologie
bezieht sich auf Sergej Leonidowitsch Rubinstein, der
in seinen "Grundlagen der Allgemeinen Psychologie"
davon ausgeht, dass die "Psyche des Menschen nur
durch die Tätigkeit des Subjekts erkennbar"
ist (Rubinstein 1977, 39) und daher die Psychologie diese
Tätigkeit zu analysieren habe. Die meisten handlungstheoretischen
Konzepte können sich allerdings nicht zu solch einer
klaren Gegenstandsbestimmung durchringen. Sie versuchen
vielmehr "Musik" als Gegenstand der Musikpsychologie
aufrecht zu erhalten und den "Musikbegriff"
neu zu definieren.
Musikalische Tätigkeit hat Musik
zum Inhalt ("Gegenstand"), sie kann - mit Worten
Leontjews - musikalisch motiviert sein.
Die "Gegenständlichkeit" des Handelns ist
ebenfalls ein durchgehendes Merkmal aller Handlungstheorien
(Oerter 1993, 253-254). Die Verbindung mit dem Motiv ist
aber eine Leontjew’sche Besonderheit. Wenn ein Gegenstand
die Möglichkeit, eine Tätigkeit anzuregen und
zu steuern, angenommen hat, ist er Motiv (Leontjew 1977,
81). Andere, zum Beispiel kommunikative Tätigkeiten,
die nicht musikalisch motiviert sind, bei denen Musik
aber als Rahmenbedingung eine Rolle spielt, sind keine
im strengen Sinne musikalische Tätigkeiten.
Jede musikalische Tätigkeit
hat ein Motiv und wird durch eine oder mehrere auf Musik
gerichtete Handlungen realisiert. Diese Handlungen (und
nicht die Tätigkeit) haben Ziele.
Die "Trennung von Ziel und Motiv" (von Handlung
und Tätigkeit) vollzieht sich nach Leontjew mit der
Entstehung des menschlichen Bewusstseins in der menschlichen
"Entwicklung des Psychischen" (Leontjew 1985,
153-161).Die Handlungsziele sind den Handelnden entweder
bewusst oder sie können ihnen durch geeignete Maßnahmen
bewusst gemacht werden. Die Unterscheidung von Handlung
und Tätigkeit sowie die Einführung des Motiv-Begriffs
neben dem Begriff des Handlungsziels ist ein Spezifikum
der Tätigkeitspsychologie. Diese Unterscheidung hat
ganz erhebliche Konsequenzen für den handlungsorientierten
Musikunterricht, wie die beiden Beispiele am Ende dieses
Abschnittes zeigen sollen.
Motive "erscheinen" zwar
in den die Tätigkeit realisierenden Handlungen, sie
sind aber weder bewusst noch sichtbar oder erfragbar.
Man kann Motive nur detektivisch aus "Indizien"
erschließen. Solche Indizien sind die sichtbaren
Handlungen. Letztendlich ist der Motiv-Begriff ein Konstrukt.
Der tätigkeitspsychologische Motivbegriff ist im
Gegensatz zur Auffassung anderer Motivationstheorien niemals
ohne Tätigkeit denkbar. Ein abstraktes "Leistungsmotiv"
ohne konkrete Tätigkeit (d.h. einen Inhalt) gibt
es nicht. Alles, was Helga de la Motte-Haber in Band 4
des Handbuches Musikpädagogik (1987) enzyklopädisch
zum Thema Motivation zusammengetragen hat, wäre aus
tätigkeitspsychologischer Sicht nochmals inhaltlich
neu zu interpretieren.
Eine einzelne musikbezogene Handlung
(z.B. Singen eines Liedes) kann unterschiedliche Tätigkeiten
realisieren und daher auch unterschiedlich motiviert sein.
Umgekehrt kann dasselbe Motiv zu ganz unterschiedlichen
Handlungen mit unterschiedlichen Zielen führen.
Zwischen Tätigkeitsmotiven und Handlungszielen besteht
also kein kausallogischer Zusammenhang. Diese Polyvalenz
von Ziel und Motiv macht die Dynamik von Tätigkeit
aus. Wenn es diese Vieldeutigkeit nicht gäbe, wäre
die Motiv-Suche eine einfache Angelegenheit.
Tätigkeit ist Aneignung von
Wirklichkeit. Musikalische Tätigkeit ist Aneignung
von Wirklichkeit mit musikalischen Mitteln. Da die die
Tätigkeit realisierenden Handlungen die Wirklichkeit
verändern, ist diese Aneignung dialektisch verbunden
mit einer Vergegenständlichung.
Jede Tätigkeit verändert die Umwelt ("Vergegenständlichung")
und den tätigen Menschen ("Aneignung").
Diese philosophische Kernaussage der Tätigkeitpsychologie
bedeutet unter anderem: (1) Musikalische Wahrnehmung ist
ein aktiver Prozess; in der Kommunikation verändert
das "Senden" einer Nachricht die Realität
inclusive Empfänger. (2) Durch die Tätigkeit
ändern sich auch die Motive. Dies ist ein Prozess
der für Musiklernen ganz fundamental ist. "Die
Lust kommt mit dem Musizieren" heißt dieser
Vorgang umgangssprachlich. (3) "Musikmachen"
als ein prototypischer Vorgang von "Vergegenständlichung"
ist mehr als ein Erwerb von musikalischen Fertigkeiten,
er ist Teil einer umfassenderen Aneignung von Wirklichkeit
(Jugendkultur, Geschichte, soziale Gruppensituation usw.).
Bewusstsein ist die Fähigkeit,
Handlungsziele zu setzen, Handlungen zu planen und zu
überprüfen, inwieweit Ziele erreicht wurden.
Dies kann explizit geschehen oder über den Mechanismus
der Bedürfnisbefriedigung.
Aus der Dynamik der Tätigkeit (Aussage 6) und der
Polyvalenz (Aussage 5) folgt, dass sich Bewusstsein aus
der Tätigkeit herausbildet und zugleich die die Tätigkeit
realisierenden Handlungen steuert. Für Leontjew sind
bewusste Handlungen typisch menschlich (Leontjew 1985,
153-161). Das vielzitierte Beispiel Karl Marx’ vom
Unterschied zwischen der Biene, die eine wunderschöne
Wabe baut, und dem Architekten, der Schönheit bewusst
plant, ist auf Musik übertragbar. Während eine
Nachtigall die Ziele ihres Schöngesanges nicht frei
wählen oder verändern kann, kann eine Opernsängerin
ihre Singhandlungen gezielt einsetzen und Handlungsstrategien
bewusst gestalten. - Dieser Gedankengang ist nicht unumstritten.
Zum einen gibt es Tiere, die offensichtlich Handlungsziele
verändern können. Zum andern kennt der graue
Opernalltag (pars pro toto) viele Fälle, in denen
ein Mensch eher tierisch als typisch menschlich tätig
sein muss, d.h. keinerlei Verfügungsgewalt über
seine Handlungsziele hat und sich im Laufe des Lebens
auch gar nicht mehr vorstellen kann, wie so etwas sein
könnte.
Aus Bedürfnissen heraus können
Tätigkeitsmotive entwickelt werden, die dann zu Handlungen
führen. Wie die Motive, so können sich auch
Bedürfnisse durch die Tätigkeit (die dann als
Bedürfnisbefriedigung interpretiert werden kann)
weiterentwickeln.
Zwischen Handlungszielen und den Bedürfnissen, aus
denen die Tätigkeitsmotive entstanden sind, besteht
kein kaussallogischer Zusammenhang. Musikalische Motive
können zu nicht-musikalischen Handlungen führen
und musikalische Handlungen können nicht-musikalische
Motive realisieren. Am bekanntesten ist der letzte Fall.
Er liegt immer dann vor, wenn aufgrund musikfremder Motive
musiziert wird: sei’s aus Gründen der puren
Geselligkeit, des "Geldmotivs" oder aus selbsttherapeutischen
Gründen.
Dass Bedürfnisse sich durch die Befriedigung von
Bedürfnissen weiter entwickeln, dass Befriedigung
also keine Beseitigung, sondern eine Veränderung
von Bedürfnissen ist, gehört heute zum Alltagswissen.
Kein Mitglied unserer Konsumspiralen-Gesellschaft wird
leugnen, dass Bedürfnisbefriedigung zu neuen Bedürfnissen
führt - nicht nur aufgrund von Werbung und Manipulation,
sondern auch wegen der dynamischen Dialektik menschlicher
Tätigkeit. Die Karl Marx’sche Aussage von der
Bedürfnisspirale war nicht moralisch oder kritisch
formuliert, sie war eine nackte Feststellung. Ihre Ursache
übrigens sieht Karl Marx im "Wesen des Kapitals",
das sich ständig vermehren muss, wenn der Kapitalismus
nicht zusammenbrechen soll. Auch diese Aussage gilt heute
in allen ökonomischen Theorien als Gemeinplatz.
Musiklernen ist die Herausbildung
der Fähigkeit, selbstbestimmt und selbstbewusst musikalisch
tätig sein zu können. Musikalität ist die
Fähigkeit, erfolgreich musikalisch tätig zu
sein.
"Erfolgreich" bezieht sich stets auf die individuellen
und sozialen Bedürfnisse des Einzelnen. Zu "Fähigkeit"
gehört also nicht nur, dass ein Individuum durch
eine Handlung ein Handlungsziel erreichen, sondern auch,
dass es aus seinen Motiven heraus die geeigneten Handlungsziele
überhaupt entwickeln kann. Dieser zweite Aspekt ist
gerade bei musikalischen Tätigkeiten nicht einfach
und führt zu mehr Problemen als der erste. Mit der
Frage, wie musikalische Ziele - durch Fingerübungen,
durch mentales Training, durch Notenanalyse etc. - handelnd
erreicht werden können, beschäftigen sich 90%
der Musikpädagogik. Die Frage, welche musikalischen
Zielsetzungen aber gewisse Motive zu realisieren imstande
sind, bleibt jedem Einzelnen überlassen. Daher wissen
Menschen, die musikalisch motiviert sind, sehr oft nicht,
was sie konkret tun sollen: ein Instrument erlernen, eine
CD kaufen, sich mit einem Musiker befreunden, eine Reise
nach Salzburg unternehmen usw. Auch mit ihrem Musikalitätskonzept
geht die Tätigkeitpsychologie weit über andere
Handlungstheorien hinaus. Letztere klammern das Musikalitätsproblem
entweder ganz aus oder übernehmen Musikalitätstheorien
anderer Provenienz.
Musikalische Bildung ist die Entwicklung
der Persönlichkeit durch musikalische Tätigkeit.
Die Bedeutung von Musikunterricht im Rahmen einer staatlichen
Schule ist im Wesentlichen musikalische Bildung.
Es überrascht vielleicht, dass die Tätigkeitpsychologie
überhaupt einen "Bildungsbegriff" hat.
Dies liegt daran, dass sich durch Tätigkeit (und
nur durch Tätigkeit!) die Persönlichkeit des
Menschen "bildet". Das tätigkeitspsychologische
Persönlichkeitskonzept spielte in der DDR mit dem
Leitziel der "allseitig entwickelten sozialistischen
Persönlichkeit" eine derart große Rolle,
dass westdeutsche Lerntheorien in dieser Hinsicht sehr
vorsichtig gewesen sind. Dabei ist der resultierende Bildungsbegriff
gemessen an Äußerungen der westlichen Bundesschulmusikwochen
sehr profan. Von "handlungstheoretisch fundierter
Persönlichkeitspsychologie", wie sie Christian
Harnischmacher vorgeschlagen hat (Harnischmacher 1994),
unterscheidet sich das tätigkeitspsychologische Konzept
durch relativ globale und eher philosophische Herangehensweise.
Eine wichtige Konsequenz im Hinblick auf Konzepte, die
das Musikmachen zu verabsolutieren scheinen, ist, dass
Musiklernen im Sinne der Entwicklung musikalischer Fähigkeiten
bei diesem Bildungsbegriff nicht vorrangig ist. Zwar lässt
sich bei dieserart musikalischer Bildung - gottlob! -
die Herausbildung von Fähigkeiten und somit "Musikalität"
nicht vermeiden. Das Ziel von Unterricht ist jedoch die
Persönlichkeits- und nicht die Fertigkeitsentwicklung.
Wie Aussage 3 die theoretische Differenz zwischen einer
tätigkeitspsychologisch und allen anders fundierten
Handlungsorientierungen darstellt, demonstriere ich an
zwei Fallbeispielen:
Fall 1:
In einer Musik-AG wird geprobt. Alle SchülerInnen
haben zusammen mit der Lehrkraft das Ziel, ein vorgegebenes
Stück einzustudieren. Die Lehrkraft muss immer wieder
Entscheidungen treffen: Breche ich an einer falsch gespielten
Stelle ab und übe nochmals? Welche Rolle soll in
meinen Ermahnungen "bei der Sache zu bleiben"
der Hinweis auf die Aufführung vor der Öffentlichkeit
spielen? "Motiviere" ich oder mache ich Angst,
wenn ich auf die Gefahr einer Blamage hinweise? Wie soll
ich auf sachfremde Gespräche der SchülerInnen
am Rande der Probe reagieren? Soll ich ein "Arbeitsklima"
schaffen oder eher das einer schönen Freizeitbeschäftigung?
Zur Beantwortung dieser Fragen müsste die Lehrkraft
eine Tätigkeitsanalyse der Probenarbeit durchführen,
die folgende Aspekte beachtet: Alle vollführen dieselben
Handlungen bei gleichen Zielsetzungen, es gibt aber unterschiedliche
Motive. Die einen sind musikalisch motiviert und wollen
ein gut klingendes Stück bei einer öffentlichen
Präsentation hervorbringen. Die andern sind sozial
motiviert und wollen eine angenehme Zeit bei der Proben
erleben. Trotz gleichen Handlungen finden also verschiedene
Tätigkeiten statt. Die Probe befriedigt zweierlei
Bedürfnis, das nach erfolgreicher Selbstdarstellung
auf einer Bühne und das nach sozial angenehmer und
sinnvoll erfüllter Freizeit in der probenden Gruppe.
Das "pädagogische Geschick" der Lehrkraft
besteht bekanntlich darin, zwischen diesen unterschiedlichen
Bedürfnissen, Motiven und Tätigkeiten in einer
gemeinschaftlichen Tätigkeit (der "Probe")
zu vermitteln, falls die Lehrkraft nicht von vornherein
nur eine Art von Bedürfnis, Motiv und Tätigkeit
zulassen will. Die pädagogische "Vermittlung"
geschieht meist intuitiv, manchmal mit, manchmal ohne
Erfolg. Eine Tätigkeitsanalyse hilft, hier mit vollem
Bewusstsein vorzugehen, Konfliktsituationen frühzeitig
zu erkennen und zu deregulieren. Das konkrete Procedere
habe ich an anderer Stelle ausführlich dargestellt.
Fall 2:
Ein Musiklehrer ist schülerorientiert und fragt,
ob die SchülerInnen in der nächsten Stunde ein
bestimmtes Musikstück lieber auf Instrumenten spielen
oder zu einem Playback des Stückes tanzen wollen.
Allerdings weiß er, dass die Antworten auf derartige
Direktbefragungen nicht wörtlich genommen werden
dürfen, sondern interpretiert werden müssen.
Wie aber soll er das Befragungsergebnis interpretieren?
Ein Musiklehrer ist schülerorientiert und fragt,
ob die SchülerInnen in der nächsten Stunde ein
bestimmtes Musikstück lieber auf Instrumenten spielen
oder zu einem Playback des Stückes tanzen wollen.
Allerdings weiß er, dass die Antworten auf derartige
Direktbefragungen nicht wörtlich genommen werden
dürfen, sondern interpretiert werden müssen.
Wie aber soll er das Befragungsergebnis interpretieren?
Der Musiklehrer fragt nach Handlungsalternativen. Um die
Schülerangaben einschätzen zu können, müsste
er die Motive der SchülerInnen herausbekommen und
sodann pädagogisch entscheiden, wie er mit unterschiedlichen
Motiv "taktisch geschickt" umgeht. Der Lehrer
wird sich also einen Katalog möglicher Motive, die
zum Plädoyer für "auf Instrumenten spielen!"
führen, aufschreiben: (1) starkes Bedürfnis,
auf Instrumenten zu spielen, (2) generelle Unlust sich
körperlich im Musikunterricht zu betätigen,
(3) Angst vor "Anmache" durch das andere Geschlecht,
(4) Wunsch, die geliebte Freizeitbeschäftigung Tanzen
nicht pädagogisiert zu bekommen usw. Zwischen Handlungszielen
und Motiven gibt es (Aussage 5) keinen kausallogischen
Zusammenhang. Daher müsste der Lehrer zur Motiv-Bestimmung
weitere Informationen einholen. Dies wird er in der Regel
nicht durch eine weitere Befragung, sondern durch Beobachtung
der SchülerInnen tun. Solche Beobachtungen führt
ein Musiklehrer, sofern er die SchülerInnen einigermaßen
gut und lange kennt, laufend durch. Er wird also, aus
seiner "Kenntnis der SchülerInnen heraus"
das Befragungsergebnis interpretieren.
Die Kombination von "objektiver" empirischer
Befragung und "subjektiver" Interpretation der
Ergebnisse ist aus tätigkeitspsychologischer Sicht
notwendig. Das Verfahren ist aber derart aufwendig, dass
üblicherweise gerade im handlungsorientierten Unterricht
das Verfahren des "Probehandelns" schneller
und ebenso zuverlässig ist. Danach setzt der Musiklehrer
ohne zu fragen selbst gewisse Handlungsziele und beobachtet,
ob und wie SchülerInnen die entsprechenden Handlungen
gestalten und zur Realisierung von Tätigkeiten und
Motiven bzw. zur Befriedigung von Bedürfnissen einsetzen.
Wenn die Gesamttätigkeit offen und selbstreguliert
angelegt ist, werden die Antworten auf die Frage, die
durch die erwähnte empirische Befragung zutage hätten
gefördert werden sollen, von selbst deutlich werden.
2. "Hören und
Verstehen" im Strudel des musikpädagogischen
Paradigmenwechsels
Das Modell der musikalischen Kommunikation hatte eine
doppelte Funktion. Als Modell vom "Wesen der Musik",
als Beschreibung dessen, worauf es bei Musik "wirklich"
ankommt, war es ein gegen den überzogenen und verabsolutierten
Kunstwerk- und Kunstwerkschöpfer-Begriff gerichtetes
musikwissenschaftliches Programm. Als Modell von "idealen
Prozessen" im Musikunterricht, als Beschreibung dessen,
woran die Ziele des Musikunterricht ausgerichtet sein
sollten, war es ein musikpädagogisches Programm.
Beide Programme ergänzen sich und entstammen demselben
aufklärerisch-kritischen Geiste, auch wenn man sie
logisch trennen kann und auch wenn sie nicht immer gleichzeitig
auftraten.
Das Kommunikationsmodell stellte den Kunstwerkbegriff
als eine "Verdinglichung" oder "Fetischisierung"
von musikalischer Kommunikation dar, die sich mit Aufkommen
der bürgerlichen Gesellschaft zur unhinterfragten
Selbstverständlichkeit entwickelt habe. Mit zunehmender
Kommerzialisierung der Kunstmusik habe sich das derart
verdinglichte Modell dann dem des ökonomischen Modells
von der Produktion, Distribution und Konsumtion von Waren
bis zur Unkenntlichkeit angenähert. In letzter Konsequenz
wurde der Kunstwerkcharakter als eine besonders blendende
und schöne Ausprägung des Warencharakters interpretiert
(Stroh 1978).
Obgleich das Kommunikationsmodell eine Kritik des (fetischisierten)
Kunstwerks darstellen sollte, hat es die für Kunstwerke
konstitutive Eigenschaft von Musik, eine "Botschaft"
zu enthalten, die nicht nur "gehört", sondern
auch "verstanden" werden kann, nicht zerstört.
Im Gegenteil. Gerade Theodor W. Adorno, der die Fetischcharakter-These
von Karl Marx auf die Musik übertragen hatte, hat
emphatisch das "Verstehen von Musik" propagiert
und dabei nicht nur den Musikbetrieb, sondern auch die
musikpädagogische Musizierpraxis als Hindernis von
Musikverstehen angeprangert (Gramer 1976, 31-43):
Unabdingbar aber erscheint die Forderung, dass wahre musikalische
Pädagogik terminiere im Verständnis dessen,
was in der Kunstmusik ihrer Epoche verbindlich sich zuträgt
(Adorno 1957, 119)
Nun gibt es durchaus unterschiedliche Modelle musikalischer
Kommunikation. Die Vorstellung von Sender-Botschaft-Empfänger
und von der Struktur der Botschaft als einer dialektischen
Einheit der syntaktischen, semantischen und pragmatischen
Dimension entsprach noch weit gehend der vertrauten musikphilosophischen
Kategorienbildung von Gehalt und Gestalt oder Inhalt und
Form. Das Modell konnte sehr "rezeptiv" interpretiert
werden, wobei dem Musikunterricht im Sinne des Adorno-Zitats
dann die Aufgabe zufiel, eine durch den Komponisten und
seine Zeit festgelegte und im Kunstwerk chiffrierte "Bedeutung"
(d.h. "das, was sich im Kunstwerk verbindlich zuträgt")
zu dechiffrieren. Dies Modell widersprach weder der Hermeneutik
noch einer Schülerorientierung, für die lediglich
Adornos Vorstellung, dass der Musiklehrer vorab feststellen
könne, in welchen Kunstwerken sich etwas "verbindlich
zuträgt", fallen gelassen wurde. So wurde eben
auch dann "Bedeutung" dechiffriert, wenn diese
möglicherweise "unverbindlich" war, also
in Werbespots, Filmmusik, Popularmusik, außereuropäischer
Musik.
Die musikpädagogische Handlungsorientierung hat dies
relativ fest gefügte Modell und Weltbild erheblich
dynamisiert. Der Kommunikationsakt wurde als "Handlung",
als ein aktiver Vorgang, als eine Interaktion, als ein
sozialer Prozess interpretiert. Dadurch geriet die traditionelle
Vorstellung von "Verstehen" ins Wanken. 1975
bei Wilfried Ribke scheint die "Handlungsorientierung"
nicht nur die Methode zu betreffen (Rauhe/Reinecke/Ribke
1975, 169-195), sondern auch die Inhalte (ab S. 196).
In diesem Augenblick kippt der traditionelle Verstehens-Begriff.
Musikstücke sollen nicht mehr "betrachtet",
sondern handelnd "nachvollzogen", nicht mehr
"analysiert", sondern "erfahren" werden
(S. 197). Was ist das für ein "Verstehen",
wenn die SchülerInnen handelnd mit Musikstücken
umgehen? Geht dieser Begriff noch davon aus, dass im Musikstück
eine Botschaft enthalten ist, gibt es noch die Vorstellung,
dass SchülerInnen ein Musikstück "richtig"
oder "falsch" verstehen können, oder genügen
die guten, positiven und mitteilbaren Erfahrungen beim
handelnden Umgang?
Das Problem wurde schnell erkannt und auch in unterschiedlichen
Zusammenhängen diskutiert. Walter Heimann stellt
1984 auf einer Bundesschulmusikwoche fest, dass "musikalisches
Handeln" nur auf den ersten Blick problemlos sei.
"Zum Problem wird es im Folgenden dadurch, dass es
durch Werturteile einen subjektiven Sinn erhält".
Heimann stellt der (alten) objektiven die (neue) subjektive
"Wertlehre" gegenüber, "für die
Musik ..., kurz gesagt, die Summe dessen ist, was Menschen
davon halten". "Für den Lehrer hat die
subjektive Wertlehre allerdings ein gewaltiges Problem
geschaffen. Denn anders als die objektive Wertlehre beantwortet
und ‘verantwortet’ sie die Sinnfrage des musikalischen
Handelns nicht" (Heimann 1985, 236 und 241). Wilfried
Fischer charakterisiert Handlungsorientierung ebenfalls
dadurch, dass sich diesem Konzept zufolge "Verstehen
nicht mehr nur am Werk, sondern auch an der Rezeption
orientiert" habe (Fischer 1986, 318). Diesen Verstehens-Begriff
führt Fischer auf die Entdeckung der Jugendkulturen
durch die Musikpädagogik, prototypisch auf Hermann
Rauhes "Schlager und Beat im Unterricht" von
1970 zurück.
Ein Paradigmenwechsel stand ins Haus. Unter "Paradigma"
versteht man heute jenen unhinterfragten und auch grundsätzlich
nicht hinterfragbaren Grundkonsens einer Scientific Community.
Das wichtigste Paradigma der neuzeitlichen Wissenschaft
ist, dass der Mensch zwischen erkennendem Subjekt und
erkanntem Objekt unterscheiden kann. Als ähnlich
fundamentales und damit verwandtes musikpädagogisches
Paradigma kann man den herkömmlichen Verstehensbegriff
ansehen. Danach bedeutet Musik nicht einfach "alles",
sondern etwas ganz Bestimmtes. Und dies Bestimmte können
Menschen verstehen oder missverstehen. MusikerInnen sind
professionell mit der Herstellung von musikalischen Bedeutungen
beschäftigt, Nicht-MusikerInnen dagegen mit dem Versuch
zu verstehen. Rolf Großmann hat 1991 in einer umfangreichen
Arbeit alle seinerzeit verbreiteten Theorien musikalischer
Kommunikationshandlungen zusammengefasst (Großmann
1991) und gezeigt, bis zu welchem Grad das alte musikpädagogische
Paradigma strapazierfähig ist.
Inzwischen, 1999, ist das alte Paradigma weit gehend gefallen:
1. MusikpädagogInnen erahnen dies aufgrund einer
freud- oder leidvollen Praxis,
2. Theoretiker diskutieren das Phänomen als "radikalen
Konstruktivismus" und
3. DJ’s, Scratcher, Sampler, Filmmusiker, Werbespotler
betätigen sich als Leichenfledderer.
Botschaften von Musik, so das neue Paradigma, entstehen
im Umgang mit Musik, sie werden von den HörerInnen
"konstruiert", sie sind gar nicht in der Musik
enthalten. Freilich bemühen sich KomponistInnen von
Kunstwerken immer noch um das Chiffrieren von Botschaften
und die meisten HörerInnen "konstruieren"
sich ja auch noch das, was die KomponistInnen gewollt
haben, vor allem dann, wenn der Rezeptionsrahmen klar
umrissen ist. Indessen scheint diese Form musikalischer
Kommunikation rapide abzunehmen. Ob eine sinfonische Geste
im Werbespot die Botschaft "potenzstärkendes
Auto" oder ein Didgeridoo-Klang im Technokeller die
Botschaft "Xtasy" verbreitet, das hat kein Beethoven
und kein Aborigines mehr in der Hand.
Ad (1). Nicht nur die im deutschsprachigen Raum auflagenstärkste
Musikzeitschrift "Praxis des Musikunterichts"
sondern auch die konzeptionellen Windungen von "Musik
und Bildung" oder "Musik und Unterricht"
spiegeln wider, dass die herkömmlichen Ziele des
"Verstehens" weit gehend dem Konzept eines fantasievollen
und lustbringenden Umgangs mit Musikstücken gewichen
ist. Alles geschieht unter dem Vorwand der Handlungsorientierung.
Dabei wird "Spaß haben" oft als ein Ziel
bezeichnet. Dies ist ein logischer und terminologischer
Irrtum, aber ein sehr bezeichnender Irrtum. "Spaß"
kann kein Handlungsziel sein, sondern ist eine positive
Begleiterscheinung und ein Erfolgskriterium. Wenn Schüler
beim Zertrümmern eines Musikinstruments "Spaß"
haben, dann hört ja der Spaß auf. Jedes Handlungsziel
muss wie auch die dahinter stehende Tätigkeit einen
Inhalt haben und Spaß ist kein Inhalt. Wenn "Spaß"
zum Ziel erhoben wird, so kommt in diesem logischen Irrtum
eine neuartige Beziehung von SchülerInnen zu Musik
zum Ausdruck. Wenn sie nämlich das, was Musik für
sie bedeutet, nicht mehr "verstehend" der Musik
entnehmen, sondern selbst(bewusst) selbst herstellen ("konstruieren"),
so kann es ihnen scheinen, als ob der Spaß, den
sie hierbei empfinden, Inhalt ihrer Tätigkeit und
Ziel ihrer Handlung ist.
Ad (2). Der "radikale Konstruktivismus" verabsolutiert
die aktuellen Beobachtungen über menschliche Tätigkeiten
zu einem philosophischen und infolgedessen auch philologischen
System. Er liefert allen, die den Paradigmenwechsel, der
sich im Schulalltag abspielt, neurophysiologisch bis onthologisch
abgesichert haben möchten, die notwendigen Begründungen
und den notwendigen Trost. In der Praxis etwa der "systemisch-konstruktivistischen
Pädagogik" (Kersten 1997) werden handlungsorientierte
Modelle mit einer starken Akzentuierung der Dialektik
von Inhalts- und Beziehungsaspekt dargeboten. Dass der
musikbezogene Konstruktivismus keineswegs an Handlungstheorien
gebunden, sondern auch auf der Basis der der Kognitionspsychologie
funktionieren kann, hat Christoph Louven mit einer experimentellen
Untersuchung zum Problem von "Musik Hören und
Verstehen" gezeigt (Louven 1998). Christian Harnischmacher
hat die Theorie des radikalen Konstruktivismus explizit
auf Musiklernen übertragen, dabei Handlungstheorien
nur indirekt einbezogen und dafür plädiert,
im Musikunterricht möglichst von Schallereignissen
auszugehen, bei denen wie in Urzeiten der Auditiven Wahrnehmungserziehung
eine "Bedeutungszuweisung bei an sich bedeutungsfreien
neuronalen Prozessen gelingen" könne (Harnischmacher
1997, 86). Immerhin zeigt die Diskussion um den radikalen
Konstruktivismus, dass auffällige Erscheinungen der
gesellschaftlichen Praxis, auf die schülerfreundliche
MusiklehrerInnen längst unbewusst reagiert haben,
auch philosophisch diskussionswert und damit sicherlich
kein bloßer Zufall oder Einbildung sind.
Ad (3). Die auffallendsten und musikalisch wohl interessantesten
Erscheinungen des Paradigmenwechsels spielen sich im aktuellen
Musikleben ab. Es gibt kaum mehr einen Sektor der Musikproduktion,
der nicht vom Zusammenbruch der herkömmlichen Vorstellung
von "Hören und Verstehen" ergriffen ist.
Ob ein DJ ein Musikstück einfach rückwärts
abspielt, ob eine Blech-Band sich auf John Cage beruft,
ob nach Belieben quer durch den CD-Plattenmarkt gesampelt
wird, ob MusikerInnen aus beliebigen musikalischen Weltregionen
mit anderen MusikerInnen vernetzt und fusioniert werden,
ob E-Musikkomponisten ganze Sinfonien als Collage und
Zitat anlegen, ob für Werbespots und Videos nur noch
die GEMA Grenzen musikalischer Bricollagen setzt, ob klassische
Musik für den Gebrauch beim Zahnarzt dynamisch komprimiert
oder ein gregorianischer Choral für den Einsatz in
einem Lederjackengeschäft durch einen Flanger geschickt
wird... stets beobachten wir, dass und wie aktiv tätige
Menschen Bedeutungen von Musik "konstruieren".
Wie ist solch eine pietätlos neu-konstruierte Musik
zu "verstehen"?
Der Basler Philosoph Hans Saner hat 1997 in einem Festvortrag
als Außenstehender über "Die Musikpädagogik
in der Spannung von moderner Einheit und postmoderner
Pluralität am Ende des 20. Jahrhunderts" gesprochen
und gesagt:
Das Fazit all dessen ist, dass heute von einer identitätsstiftenden
Funktion der Musik nicht mehr die Rede sein kann. Aus
zwei Gründen: Erstens gibt es gar keine Identität
der Musik selber. ... Zweitens ist der Musiker heute,
wie alle Künstler, nicht eine sesshafte, sondern
eine nomadische Existenz, weil er von Musik zu Musik geht,
die sich alle erst im Musizieren definieren. ... aus dem
nomadierenden Interesse an der Differenz aber erwächst
ihm eine neue Fähigkeit zu: auf das, was ihm noch
fremd ist, zuzugehen, um im Kontakt mit ihm die Differenz
auch wahrzunehmen und zu erfahren (Saner 1997, 276-277)
In diesem Gedankenfragment scheint die "Multikulturalität"
als Perspektive dessen, was von wertekonservativer Seite
mit Sinnkrise und Identitätsverlust beschrieben wird.
Jugend-Theoretiker sprechen von Patchwork-Culture und
Bricollage. Musikalisch erscheint die aktuelle Situation
nach dem Paradigmenwechsel in der Tat wie ein riesiger
Supermarkt von Beliebigkeiten, aber auch von Kreativität
- stets an der Grenze des Nonsense. Die Philosophen des
radikalen Konstruktivismus haben diesen Supermarkt und
das aus ihm ertönende musikalische Weltkonzert der
Unverbindlichkeiten nicht verursacht, sondern allenfalls
als Anlass ihrer Theoriebildung genommen. Und die Handlungsorientierung
in der Musikpädagogik ist mit Sicherheit auch nicht
an der geschilderten Situation des Musikunterrichts Schuld.
Allerdings ist kaum zu leugnen, dass sich unter ihrem
Deckmantel der Paradigmenwechsel klammheimlich im Klassenzimmer
durchsetzen konnte.
Psychologisch betrachtet herrscht in diesem musikalischen
Supermarkt der Beliebigkeiten jedoch die Logik einer emsigen
und kreativen musikalischen Tätigkeit. Während
Handlungstheorien, die sich um "Hören und Verstehen"
bzw. um musikalische Kommunikation bemühen, angesichts
des Paradigmenwechsel vor die Alternative gestellt sind,
entweder neue Leitziele zu formulieren oder aber den Begriff
des Verstehens "radikal-konstruktivistisch"
neu zu definieren, haben Handlungstheorien, die tätigkeitspsychologisch
begründet sind, keine Probleme mit dem Paradigmenwechsel.
Die Kategorien, die im "Aussagen-System" des
vorigen Abschnitts dargelegt worden sind, sind weiterhin
tragfähig. Das hat folgenden Grund:
Was an "Verständnis" im Kopf eines Menschen
physiologisch oder psychologisch vorgeht, ist für
die tätigkeitspsychologische Handlungsorientierung
nur insofern interessant, als dieser Mensch handelt und
tätig ist. Wie bereits erwähnt, geht die Tätigkeitpsychologie
davon aus, dass die "Psyche des Menschen nur durch
die Tätigkeit des Subjekts erkennbar" ist (Rubinstein
1977, 39). Mit Sicherheit gilt diese Aussage für
die Praxis des Musikunterrichts. Was nützt tiefes
Musikverstehen eines Schülers, wenn niemand etwas
davon merken kann? "Verstehen" kann tätigkeitspsychologisch
nur bedeuten, dass ein Mensch in musikalischer Tätigkeit
musikalische Motive entwickelt, Handlungsziele setzt,
Handlungen ausführt und dabei mit seiner Umwelt interagiert.
Die musikalisch Tätigen tun dies alles im Idealfall
selbstbestimmt und selbstbewusst (Aussage 10). Nennt man
diesen Prozess "Konstruktion von Bedeutung",
so ist klar, wo die Grenzen des tätigkeitspsychologischen
"Konstruktivismus" liegen: Motive, Handlungsmöglichkeiten
und -ziele und das Bewusstsein der Handelnden leiten die
Bedeutungs-Konstruktion. Alle drei Faktoren kann das Individuum
nicht alleine "im Kampf aller gegen alle", sondern
nur als soziales Wesen beeinflussen: Die Motive entwickeln
sich aus den Bedürfnissen (die sich aus individuellen
und gesellschaftlichen zusammensetzen) sowie der "Aneignung
von Realität", einer weit gehend vernetzten
und sozialen Beziehungs-Realität. Dass Motive im
Sinne der Tätigkeitspsychologie keine Privatsache,
sondern gesellschaftlich bedingt sind, hat Anke Westphal
in einer Untersuchung zur geschlechtsspezifischen Motivation
von MusikschulschülerInnen gezeigt (Westphal 1996).
Die Handlungsmöglichkeiten und -ziele können
nur in sehr begrenztem Ausmaß frei gewählt
werden, in der Schule sind sie durch die Institutionen,
die Klasse, den Lehrer, die zur Verfügung stehenden
Mittel etc. bestimmt. Das Bewusstsein - daran hält
die Tätigkeitpsychologie fest - ist letztendlich
(d.h. "in letzter Instanz") durch das gesellschaftliche
Sein bestimmt.
3. Methodische Konsequenzen und Perspektiven
am Beispiel der Szenische Interpretation von Musik
Die Sache ist eigentlich ganz einfach: Tätigkeitspsychologisch
fundierte Handlungsorientierung bedeutet, daß alle
von der MusiklehrerIn und von den SchülerInnen ausgeführten
Handlungen ein Musiklernen durch "musikalische Tätigkeit"
darstellen. Die entscheidende Frage ist jedoch: Welche
Methoden sind geeignet, ein Musiklernen im Sinne musikalischer
Tätigkeit in Gang zu setzen und zu garantieren? Wie
kann tätigkeitspsychologisch fundierte Handlungsorientierung
konkret inszeniert werden?
Als Antwort möchte ich das Konzept der Szenische Interpretation von Musik, das zunächst als eine Umsetzung
des "erfahrungsbezogenen Unterricht" von Ingo
Scheller (Scheller 1981) entwickelt worden ist, unter
tätigkeitspsychologischen Kriterien von Handlungsorientierung
analysieren. Dabei wird sich zeigen, dass dies Konzept
ein breites Methodenrepertoire für tätigkeitspsychologisch
fundierte Handlungsorientierung bereitsstellt.
Der Begriff "Erfahrung" wurde von Anfang an
mit Handlungsorientierung in Verbindung gebracht. Wilfried
Ribke stellt, wie bereits zitiert, 1975 die Tätigkeit
"Musik erfahren" der Tätigkeit "Musik
analysieren" gegenüber. Rolf Großmann
hebt 1991 den Aspekt der "Einfühlung",
der auch im erfahrungsbezogenen Lernen wichtig ist, hervor.
Hans Bäßler spricht 1998 von "handelnden
Erfahrungen", sagt, dass "Handeln immer auf
Erfahrungen abzielt", und wünscht vom Musikunterricht,
dass er "Musik handelnd erfahrbar machen" möge
(Bäßler 1998, 4-6). Ins Deutsche übersetzt:
"Erfahrungen" sind Ergebnisse von Handlungen
(allerdings keine Handlungsziele), und im Musikunterricht
sollten die SchülerInnen musikalische Erfahrungen
auch im handelnden Umgang mit komponierter Musik machen.
Offensichtlich ist Handlungsorientierung hier eine methodische
Realisierung von Erfahrungslernen. "Handeln, um (Lern-)Erfahrungen
zu machen", so stand es in der Tat bereits in Rudolf
Nykrins "Erfahrungserschließender Musikerziehung"
(Nykrin 1978), die das Konzept der Bielefelder Laborschule,
d.h. Hartmut von Hentigs "Schule als Erfahrungsraum"
(von Hentig 1973), musikpädagogisch aufgearbeitet
hat.
Nun besagt die Tatsache, dass häufig "handelnder
Unterricht" als eine Form von Erfahrungslernen erkannt
wurde, noch nicht, dass jedes Erfahrungslernen - also
beispielsweise das szenische Interpretieren von Musik
- handlungsorientiert, geschweigedenn tätigkeitspsychologisch
fundiert ist. Ich werde daher im Folgenden explizit zeigen,
dass Szenische Interpretation von Musik als ein tätigkeitspsychologisch
fundiertes Handlungskonzept betrachtet werden kann. Ein
Konzept übrigens, das nach dem musikpädagogischen
Paradigmenwechsel noch Bestand hat.
Das Konzept des erfahrungsbezogenen Unterrichts geht davon
aus, dass SchülerInnen durch Erfahrungen lernen und
sogar nur durch Erfahrungen lernen. Alles, was im Unterricht
passiert und keine Erfahrung wird, wird auch nicht gelernt.
Erfahrungen entstehen dabei durch verarbeitete Erlebnisse
und Erlebnisse sind die Erinnerungsspuren von Handlungen.
Die Aufgabe der LehrerIn ist nicht, Erfahrungen zu vermitteln,
sondern Erfahrungen zu ermöglichen. Die LehrerIn
tut alles, damit die SchülerInnen Erlebnisse haben
und diese zu Erfahrungen verarbeiten können. Bei
der Szenische Interpretation von Musik ermöglichen
die einzelnen Methoden - im Gegensatz zu ähnlich
aussehenden, handelnden Methoden wie "Musikmachen"
oder "Bewegen zu Musik" - beides zugleich: Erlebnisse
zu haben und Erfahrungen zu machen. Ein typisches Beispiel
sind gezielte Haltungsübungen zu und mit Musik. Das
Erlebnis, eine Haltung zu Musik einzunehmen, zu verändern
und zu spielen, wird im selben Verfahren szenisch kommentiert
und interpretiert durch Haltungsveränderungen, Haltungsergänzungen
und Musikveränderungen.
Wenn eine SchülerIn die nach ihrer Auffassung zu
einem Musikstück passende Haltung einnehmen oder
zu einem vorgegebenen Bild eine passende Musik finden
soll, so wird sie zielgerichtete Handlungen durchführen.
Wenn andere SchülerInnen die Musik, die Haltung und
das Bild beobachten und Vorschläge für alternative
Haltungen einbringen sollen - zum Beispiels als "Hilfs-Ich"
aussprechen, was ihrer Meinung nach die erste SchülerIn
denkt oder fühlt -, so werden auch sie zielgerichtete
Handlungen durchführen. Sofort entsteht ein differenziertes
Handlungsgeflecht, das sich zu einer musikalisch-szenischen
Tätigkeit eines Kollektivs zusammensetzt. Hierbei
werden individuelle Erlebnisse zu gemeinsamen Erfahrungen
verarbeitet.
Diese Arbeit an Haltungen zu Musik bezweckt die "Einfühlung"
in andere Menschen, oft in Rollen (eines Musiktheaterstücks),
in fremde Situationen, in soziale Beziehungen, in alle
Arten und Formen von Musik. Die Arbeit an Haltungen, an
äußeren und inneren Haltungen ist ein psychologisch
sehr effizientes und schülerfreundliches Verfahren
von "Einfühlung". Sie ist ein Verfahren,
das offen, diskutierbar, bewusst handhabbar ist. In den
Handlungen, die der "Einfühlung" dienen,
werden den SchülerInnen Motive bewusst, die andere
Menschen haben oder haben können. Sie übernehmen
im Sinne des "Probehandelns" solche Motive aus
einer Rollendistanz heraus und erfahren, was es für
die "Aneignung von Wirklichkeit" bedeutet, derart
motiviert tätig zu sein. Hier ein Beispiel:
Die Szenische Interpretation der "West Side Story"
erfordert und befördert eine "Einfühlung"
in die soziale Situation an der New Yorker West Side um
1957, in männlich dominierte Jugendbanden, in um
ihr Daseinsrecht kämpfende "Ausländer",
in Jugendliche, die Angst vor Gewalttätigkeit haben
und Gewalt dennoch herbeiführen, in selbstbewusste
Mädchen-Subkulturen, in Freundinnen und Freunde,
in Liebende, in "Aussteiger" usw. Sie erfordert
auch eine Einfühlung in die subkulturelle Bedeutung
von jazzorientierter Musik, in heimatlich getönte
Popmusik, in identitätstiftendes Singen, in spannungslösendes
oder ritualisiertes Tanzen, in musikalische Selbstdarstellung
und Gruppenbildung usw. Man könnte diese "Einfühlung"
im übertragenen Sinn mit Adornos Worten als "Verständnis
dafür, was in der Musik Bernsteins sich zuträgt"
rechtfertigen, wobei ein wichtiges Merkmal der Musik eine
gewisse Offenheit, Polyvalenz und Vielschichtigkeit ist.
Dadurch gibt es bereits aus musikalischen Gründen
keine "richtige" und "falsche" Einfühlung.
Aus Gründen der Handlungsorientierung noch viel weniger.
Derart eingefühlt spielen die SchülerInnen in
der Szenische Interpretation gewisse "Kernszenen"
und dramatische Entscheidungsprozesse mithilfe der Musik
durch. Wenn im Verlauf der Einfühlung der Aspekte
Aneignung von Wirklichkeit der musikalischen Tätigkeit
dominiert, so tritt jetzt der Aspekt der Vergegenständlichung
in den Vordergrund. Dabei werden in aller Regel im Schutze
einer Rolle Fantasien oder Ängste, Stereotypisches
oder Utopisches frei gesetzt. Dies ist zunächst ungewöhnlich
und (für die LehrerIn) beängstigend. Bei Lehrerfortbildungen,
in denen ich das Konzept der Szenische Interpretation
ausprobiere, werde ich regelmäßig an diesem
Punkt mit sehr ernsthaften Fragen konfrontiert: Darf ich
solche Fantasien freisetzen? Was kann passieren, wenn
diese Fantasien freigesetzt sind? Wie kann ich mit freigesetzten
Fantasien umgehen?
Die Antworten liegt auf drei Ebenen. Zunächst kann
festgestellt werden, dass es für gewöhnlich
an der Schule nicht zugelassen ist, sozial unerwünschte
Fantasien (über Gewalt, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit)
zu haben oder zu äußern. Die Bearbeitung solcher
Fantasien geschieht in ritualisierter Form, die die Fantasieproduktion
als einen unterbewussten Prozess kaum tangiert. Ein typisches
Beispiel ist die übliche didaktische Interpretation
der "West Side Story", die beispielsweise am
Ende des ersten Aktes die SchülerInnen mit ihren
durch die Tragik des Geschehens und durch die Kampfmusik
aufgewühlten Fantasien alleine lässt. Entweder
wird der Inhalt des Musicals überhaupt nicht aufgearbeitet
und nur darüber diskutiert, wie dieser Inhalt musikalisch
und bühnenwirksam dargestellt ist. Oder der Inhalt
wird "von außen" betrachtet und unter
Fragestellungen "Wie ist es zu einem Ergebnis gekommen,
das keiner gewollt hat?" oder "Wer ist der Schuldige?"
oder "Wie hätte sich wer anders verhalten sollen?"
diskutiert. Derart ritualisierte Art, mit Fantasien umzugehen,
befördert letztendlich die Verdrängung der Fantasien.
Es ist also sehr fraglich, was "gefährlicher"
ist, die Freisetzung oder die ritualisierte Verdrängung.
Sodann kann festgestellt, dass die Szenische Interpretation
Fantasien nicht nur freisetzt, sondern auch bearbeitet.
Jede Fantasie als Inbegriff eines potentiellen Motivs
realisiert sich im szenischen Spiel als sichtbare Handlung
- in objektivierten Haltungen, in szenischen Abläufen
oder szenischen Verfremdungen. Jede Fantasie wird in den
Kontext der gemeinsamen Spiel- und Interpretationstätigkeit
gestellt. Sie wird im wörtlichen Sinne hinterfragbar:
Wenn zwei Schüler Riff und Diesel als Standbild darstellen
und andere SchülerInnen aus ihren Rollen als Tony,
Maria, Gladhand etc. heraus diese Standbilder "befragen"
oder szenisch kommentieren, mit Musik unterlegen oder
aufgrund von Musik verändern, wenn eine Regiegruppe
"von außen" beobachtet oder eingreift,
wenn das eingefrorene Standbild musikgeleitet "belebt"
wird, ... so sind das handlungsorientierte Bearbeitungsformen.
Schließlich kann festgestellt werden, dass die Bearbeitung
von Fantasien nicht in Psychosituationen, sondern in gemeinschaftlicher
musikalischer Tätigkeit erfolgt. Sie geschieht entlang
konkreter, musikbezogener Spielerfahrungen, beobachtbarer
und veränderbarer Handlungen. Sie ist umso besser
und hilfreicher, je besser die musikbezogenen Spielprozesse,
die musikalischen Tätigkeiten organisiert und inszeniert
sind. Die Grenze, bis zu der MusiklehrerInnen mit der
szenischen Bearbeitung von Fantasien gehen können,
ist daran erkennbar, inwieweit es möglich ist, stets
bei musikalischer Tätigkeit zu bleiben und Fantasien
als Motive von musikalischer Tätigkeit in (Spiel-)Handlungen
zu realisieren. Vereinfacht gesagt, inwieweit der Unterricht
noch Musikunterricht ist. In der Regel haben MusiklehrerInnen
ein genaues Gespür dafür, wo diese Grenze für
sie liegt. Allerdings wird diese Grenze sich durch positive
Erfahrungen mit szenischem Spiel und tätigkeitspsychologisch
fundierter Handlungsorientierung im Laufe der Zeit auch
verschieben.
Die Arbeit mit und an Haltungen zu Musik ist als ein "gemäßigt
konstruktivistisches Verfahren" bezeichnet worden
(Kosuch/Stroh 1997, 4 und 19). "Konstruktivistisch",
weil die LehrerIn hierbei keine Deutung des Musikstücks
vorgibt. Sie geht vielmehr davon aus, dass die SchülerInnen
sich die Bedeutung des Musikstücks selbst szenisch-musikalisch
erarbeiten. Der gesamte Erarbeitungsprozess heißt
"Interpretation" und fordert daher dazu heraus,
mit anderen Arten von "Interpretation" verglichen
zu werden. Es gibt keine Vorab-Interpretation der LehrerIn,
die im szenischen Spiel "vermittelt" wird. Es
gibt auch keine falsche oder richtige Interpretation im
strengen Sinne. Der Erarbeitungsprozess kann mehr oder
weniger gut, er kann präzise, genau und befriedigend
oder diffus, vage und unbefriedigend sein. Er kann eine
Quelle von Lust, Spaß und Freude oder von Frust,
Stress und Nerv’, er kann ein Weg der Selbsterfahrung
oder der Entfremdung sein. Lust, Spaß und Freude
sind dabei erstrebenswerte Begleiterscheinungen, die sich
erfahrungsgemäß zwingend einstellen, wenn die
Arbeit präzise und genau ist.
"Gemäßigt konstruktivistisch" wurde
das Konzept der Szenische Interpretation genannt, weil
die Bedeutungskonstruktion durch jene oben aufgeführten
"objektiven" Faktoren bedingt sind, die für
die jegliches tätigkeitspsycholgische "Konstruieren"
gelten. Im Falle der Szenische Interpretation, die ja
eine "Inszenierung" einer MusiklehrerIn ist,
kommt noch hinzu, dass Methodenauswahl und Spielleitung
immer auch erkennen lassen, was die Musik der MusiklehrerIn
bedeutet. Für alle Handlungstheorien ist die demokratische
und gleichberechtigte Mitwirkung von SchülerInnen
eine unabdingbare Forderung. Dennoch haben Theorien keinen
Sinn, die aus technischen Gründen nicht realisierbar
sind. So kann nicht einfach ignoriert werden, dass LehrerIn
und SchülerInnen unterschiedliche Rollen haben. Die
methodische "Inszenierung" gehört ebenso
mit zur Rolle der MusiklehrerIn wie die Tatsache, dass
sie professionelle Erfahrungen mit der Methodenwahl hat.
Die SchülerInnen neben den Inhalten auch die Methoden
selbstbestimmt finden zu lassen, ist ja selbst wieder
eine Methode, von der LehrerInnen ganz genau wissen, was
sie bedeutet und wie sie zu handhaben ist. Anstatt die
unterschiedlichen Rollen und Aufgaben bei der Inszenierung
von Lerntätigkeiten zu verleugnen, sollten sie darauf
achten, dass eine Tätigkeit mit allen durch die angeführten
Aussagen 1 bis 10 postulierten Eigenschaften stattfindet.
Die Szenische Interpretation ist daher ein geeignetes
Beispiel, an dem die Prinzipien tätigkeitspsychologisch
fundierter Handlungsorientierung gezeigt werden können.
Auf den ersten Blick wirken die Verfahren recht dirigistisch
und lehrerzentriert. Beim zweiten Blick bemerkt man, dass
alle wichtigen inhaltlichen Entscheidungen von den SchülerInnen
getroffen werden, während die LehrerIn sich weit
gehend auf die Handhabung der Methode, der Inszenierung
beschränkt. Sind sich SchülerInnen und LehrerIn
in diesem Sinne ihrer Rollen bewusst, so dürften
sie keine Probleme mit dem musikpädagogischen Paradigmenwechsel
haben. Die Lehrerrolle beinhaltet im Ideal die durch die
Tätigkeitspsychologie vorgezeichnete "Inszenierung"
der "Konstruktion von Bedeutung", des Verstehens
von Musik. Dabei ist jene Inszenierung genauso wenig ausschließlich
"objektiv" wie die Bedeutungs-Konstruktion ausschließlich
"subjektiv" ist. Daher ist der Vorwurf, der
gegenüber dem radikalen Konstruktivismus erhoben
werden kann und der besagt, dass der Unterschied zwischen
"objektiv" und "subjektiv" vollständig
verwischt wird, bei der tätigkeitspsychologischen
Handlungsorientierung unbegründet. Der "objektive"
Faktor wird allerdings durch die Subjektivität der
LehrerIn dynamisiert und der "subjektive" Faktor
der musikalisch tätigen SchülerInnen an den
"objektiven" Bedingungen von Motiv-Entstehung
und -Entwicklung, am sozialem Handlungsrahmen und durch
das vom gesellschaftlichen Sein bestimmte Bewusstsein,
das die Handlungen reguliert, gebrochen.
Die Angst, dass Musik nach dem Paradigmenwechsel im Supermarkt
der Beliebigkeiten an Bedeutung verlieren wird, ist unbegründet.
Trotz subjektiver Bedeutung-Konstruktion müssen musikalische
Bedeutungen und muss Musikverstehen nicht beliebig oder
zufällig sein. Weder im Musikunterricht, noch im
wirklichen Leben der SchülerInnen. Im Musikunterricht
dann nicht, wenn die Kriterien der Tätigkeitspsychologie
erfüllt sind. Im wirklichen Leben dann nicht, wenn
die Aussagen der Tätigkeitspsychologie die Wirklichkeit
tatsächlich psychologisch erklären. Die vorliegende
Abhandlung hat vielleicht verständlich gemacht, warum
ich von letzterem überzeugt bin.
Zitierte Literatur
Adorno, Theodor W. (1957): Zur Musikpädagogik. In:
Dissonanzen. 2. Auflage. Vandenhoek und Ruprecht Göttingen.
S.119.
Autorenkollektiv Frankfurt (1974): Probleme sozialistischer
Kulturpolitik am Beispiel DDR. Fischer, Frankfurt/Main.
Bäßler, Hans (1998): Handeln? - Handeln! Überlegungen
zu einer an sich selbstverständlichen Voraussetzung
des Musikunterrichts. In: Musik und Bildung 6/1998. S.
4-6.
Bruhn, Herbert, Oerter, Rolf und Rösing, Helmut (1985)
(Hg.): Musikpsychologie. Ein Handbuch in Schlüsselbegriffen.
Urban & Schwarzenberg München.
Bruhn, Herbert, Oerter, Rolf und Rösing, Helmut (1993)
(Hg.): Musikpsychologie. Ein Handbuch. Rowohl Reinbek.
Clauß, Günter u.a. (Hg.) (1976): Wörterbuch
der Psychologie. Pahl-Rugenstein Köln.
de la Motte-Haber, Helga (1985): Handbuch der Musikpsychologie.
Laaber-Verlag Laaber
de la Motte-Haber, Helga (1987): Die Motivation zu Leistung
und Erfolg. In: Handbuch der Musikpädagogik. Band
4: Psychologische Grundlagen des Musiklernens, hg. von
Helga de la Motte-Haber. Bärenreiter Kassel
Fischer, Wilfried (1986): "Didaktische Interpretation
von Musik" und "Handlungsorientierter Musikunterricht".
In: Handbuch der Musikpädagogik, Band 1: Geschichte
der Musikpädagogik, hg. von Hans-Christian Schmidt.
Bärenreiter Kassel
Gramer, Wolfgang (1976): Musik und Verstehen. Eine Studie
zur Musikästhetik Theodor W. Adornos. Grünewald
Verlag Mainz.
Großmann, Rolf (1991): Musik als "Kommunikation".
Zur Theorie musikalischer Kommunikationshandlungen. Vieweg
Braunschweig.
Harnischmacher, Christian (1994): Handlungstheoretische
Persönlichkeitsforschung in der Musikpsychologie.
In: Musikpädagogische Forschungsberichte 1993, hg.
von Heiner Gembris, Rudolf-Dieter Kraemer und Georg Maas.
Wißner Augsburg.
Harnischmacher, Christian (1997): Perspektivische Musikdidaktik
- Musikpädagogik und Radikaler Konstruktivismus.
In: Medien - Musik - Mensch: neue Medien und Musikwissenschaft,
hg. von Thomas Henker und Daniel Müllensiefen. Bockel
Verlag Hamburg.
Heimann, Walter (1985): Musikalisches Handeln als didaktisches
Problem. Über die Antonomie von Handeln und Erkennen
im Musikunterricht. In: Medieninvasion. Die kulturpolitische
Verantwortung der Musikerziehung. Kongressbericht der
15. Bundesschulmusikwoche Kassel 1984. Schott Mainz.
Hentig, Hartmut von (1973): Schule als Erfahrungsraum?
Eine Übung im Konkretisieren einer pädagogischen
Idee. Ernst Klett Verlag Stuttgart.
Kosuch, Markus und Stroh, Wolfgang Martin (1997): Szenische
Interpretation von Musiktheater: West Side Story. Lugert
Verlag Oldershausen.
Leontjew, Aleksej Nikolaewitsch (1977): Tätigkeit,
Bewußtsein, Persönlichkeit. Hg. von Thomas
Kussmann. Ernst Klett Verlag Stuttgart. [Vollständige
Westausgabe: bei Pahl-Rugenstein, Köln 1982, hg.
von Klaus Holzkamp, nach der Ausgabe bei Volk und Wissen,
Berlin 1979. Original im Verlag Politisdat, Moskau 1975.]
Leontjew, Alexej Nikolaewitsch (1959/1985): Probleme der
Entwicklung des Psychischen. Volk und Wissen Berlin.
Louven, Christoph (1998): Die Konstruktion von Musik.
Theoretische und experimentelle Studien zu den Prinzipien
der musikalischen Kognition. Peter Lang, Europäischer
Verlag der Wissenschaften Frankfurt/Main.
Michel, Peter (1968): Handbuch Musikerziehung. Teil 2:
Psychologische Grundlagen. Breitkopf & Härtel
Leipzig.
Nykrin, Rudolf (1978): Erfahrungserschließende Musikerziehung.
Konzept - Argumente - Bilder. Bosse-Verlag Regensburg.
Oerter, Rolf (1993): Artikel "Handlungstheoretische
Fundierung". In: Bruhn/Oerter/Rösing 1993.
Rauhe, Hermann, Reinecke, Hans-Peter und Ribke, Wilfried
(1975): Hören und Verstehen. Theorie und Praxis handlungsorientierten
Musikunterrichts. Kösel Verlag München.
Rein, Kersten (1997): Systemisch-konstruktivistische Pädagogik.
Einführung in Grundlagen einer interaktionistisch-konstruktivistischen
Pädagogik. Luchterhand Neuwied (2. Auflage).
Ribke, Wilfried (1978): Artikel "Handlungsorientierter
Musikunterricht". In: Kritische Stichwörter
Musikunterricht, hg. von Walter Gieseler. Wilhelm Fink
Verlag, München.
Rubinstein, Sergj L. (1935-1940/1977): Grundlagen der
Allgemeinen Psychologie [1940 vollkommene Neubearbeitung
der "Grundlagen der Psychologie" von 1935].
Moskau. - Hier zitiert nach der 9. Auflage der deutschen
Übersetzung im Verlag Volk und Wissen, Berlin 1977.
Saner, Hans (1997): Globalisierung und Multikulturalität.
Die Musikpädagogik in der Spannung von moderner Einheit
und postmoderner Pluralität am Ende des 20. Jahrhunderts.
In: Persönlichkeitsentfaltung durch Musikerziehung,
hg. von Josef Scheidegger und Hubert Eiholzer. Musikedition
Nepomuk Aarau.
Scheller, Ingo (1981): Erfahrungsbezogener Unterricht.
Scriptor Verlag Königstein/Ts. (Mit unveränderten
Neuauflagen bis 1998).
Stroh, Wolfgang Martin (1978): Musikkonsum und Kaufverhalten.
(= Arbeitsmaterialien aus dem Oberstufen-Kolleg, Band
2). Universitätsverlag Bielefeld.
Stroh, Wolfgang Martin (1979): "Kommunikative Tätigkeit"
als Prinzip und Thema des Musikunterrichts. In: Zeitschrift
für Musikpädagogik, Heft 8.
Stroh, Wolfgang Martin (1981): Musikalische Bedürfnisse
und politische Handlungen. In: Politische Didaktik. Zeitschrift
für Theorie und Praxis des Unterrichts. Heft 2/1981:
Pop und Rock, hg. von A. Holtmann und Wulf Dieter Lugert.
Metzler Verlag Stuttgart.
Stroh, Wolfgang Martin (1984a): Leben Ja. Zur Psychologie
musikalischer Tätigkeit. Marohl Verlag Stuttgart.
Stroh, Wolfgang Martin (1984b): Praxis und Theorie der
Interaktion in Musikgruppen. In: Musik in der Kollegschule,
hg. von Ulrich Günther. Landesinstitut für Schule
und Weiterbildung NRW Soest.
Westphal, Anke (1995): Geschlechtsspezifische Aspekte
der Leistungsmotivation im Instrumentalspiel Jugendlicher.
[Dissertation an der Philosophischen Fakultät II
der Universität] Potsdam 1966. |
|
© ISIM 2006 Alle Rechte vorbehalten |
|
|
|
aktuell |
|
Gaetano Donizetti Maria Stuart |
|
|
|
21. + 22. September 2006 | 10 - 17 Uhr
Info Basiskurs
für Studierende und Lehrende
Staatsoper Unter den Linden, Berlin |
|
|
|