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von
Wolfgang M. Stroh
Musikpädagogische Forschung
Band 6, Laaber 1985
S. 145 - 160 |
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Thema
Umgang mit Musik im erfahrungsbezogenen
Unterricht
1. Erfahrungs-Tatsachen
Musikpädagogen sind sich heute wohl über folgende
Punkte einig: |
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den musikpädagogischen Handlungsbegriff
in einen theoretischen Rahmen stellen, der in der
Lage ist, |
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den musikpädagogischen Paradigmenwechsel,
der sich zur Zeit abspielt, unter Beibehaltung seines
"Aussagen-Systems" zu überstehen,
um schließlich |
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an einem wichtigen methodischen Beispiel Konsequenzen
und Perspektiven aufzuzeigen. |
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an einem wichtigen methodischen Beispiel Konsequenzen
und Perspektiven aufzuzeigen. |
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Es nimmt nicht Wunder, daß sich
heute viele musikdidaktische Konzeptionen mit dem Erfahrungsbegriff
abmühen. Musikalische Erfahrungen sind das, was der
Umgang mit Musik ermöglichen soll und ermöglicht.
Der Umgang mit Musik an sich ist pädagogisch kaum
interessant (außer eventuell in quantitativer Hinsicht).
Interessant sind die musikalischen Erfahrungen, die Schüler
machen, wenn sie mit Musik umgehen.
Hier einige Beispiele für die Verwendung des Erfahrungsbegriffs
in neueren musikdidaktischen Äußerungen:
(1) Hermann Rauhe hat jüngst gefordert, daß
die schulische Musikerziehung „zum sinnvollen Umgang
mit den Medien befähigen" soll (Rauhe 1984,
8). Den Weg dahin sieht er darin, daß durch aktives
Musikmachen „die medial vermittelten Musikeindrücke
und ihre Auswirkungen auf die Musikrezeption"„bewältigt"werden
könnten (ebenda). Dies heißt nichts anderes,
als daß die Erfahrungen, die Schüler mit den
Massenmedien machen, in der Schule verarbeitet werden
sollen - und zwar durch Musizieren. (Vor 10 Jahren sollte
ein ähnliches Ziel durch kritische Reflexion erreicht
werden.)
(2) Rudolf Nykrin nennt als wichtigstes Ziel des Musikunterrichts,
daß „Defizite musikalischer Erfahrungen, wie
sie Schüler in den Erziehungsprozef mitbringen, zu
verringern und zu korrigieren" seien (Nykrin 1978,
129). Wenn beispielsweise der überwiegende Umgang
mit Musik rezeptiv-passiv ist, so wird gefordert, daß
er in der Schule - zum Ausgleich - produktiv-aktiv sein
soll. In diesem Sinne haben Volker Schütz und Wulf
Dieter Lugert vor Jahren die „hypothetische Vorentscheidung
getroffen, den (re}produzierenden und transponierenden
Umgang mit Rockmusik in den Mittelpunkt der unterrichtlichen
Arbeit zu stellen" (Schütz 1982, 170). Inzwischen
hat Schütz seinen Ansatz weitgehend im Sinne eines
„erfahrungsbezogenen Unterrichts" begründet
- wovon noch kurz die Rede sein wird.
(3) Christoph Richter schließt mittels hermeneutischer
Interpretation Musik „für Erfahrungen und für
das Interesse der Schüler" auf (Richter II,
20). Er nimmt an, daß es keinem Menschen schaden
kann, wenn er möglichst viele Erfahrungen macht und
sich mit besonderen Erfahrungen, die Dritte - vor allem
Musiklehrer - gemacht haben, auseinandersetzt. Die Schüler
sollen, kurz gesagt, im Musikunterricht mit neuen, ihnen
ungewohnten musikalischen Erfahrungen konfrontiert werden.
Richter bezieht sich dabei vornehmlich auf Kunstmusik.
Wenn Jürgen Terhags Beobachtungen über die Unverträglichkeit
von Rock-Erfahrungen der Junglehrer und Schüler stimmen,
wird sich aber auch die Rock-Didaktik Richters Argumentation
anschließen müssen (Terhag 1984, 345-349).
Gegenüber diesen Positionen, in denen der Erfahrungsbegriff
doch eher „nebenbei" vorkommt (eine Ausnahme
bildet Nykrins Buch), geht Ingo Scheller in seinem Buch
Erfahrungsbezogener Unterricht (1981) von einem theoretisch
genau bestimmten Erfahrungsbegriff aus. Im folgenden Beitrag
soll von Schellers Konzept und seiner Bedeutung für
den Musikunterricht die Rede sein.
Die schulische Aufarbeitung und Thematisierung von musikalischen
Erfahrungen, die Schüler außerhalb der Schule
machen, steht vor denselben Problemen, die sich im Sozialkundeunterricht
bei Themen wie Jugendkriminalität, Familie, Jungen-Mädchen-Rolle,
Drogen usw. stellen. Da Schellers Konzept für den
Deutsch- und Sozialkundeunterricht entwickelt worden ist,
war es reizvoll, Schellers Lösungen - die bereits
viele Lehrerinnen und Lehrer mit Erfolg anwenden - im
Musikunterricht auszuprobieren. Dabei greifen wir bewußt
Themen und Ziele auf, die Anfang der 70er Jahre von Musikpädagogen
diskutiert und heute weitgehend ad acta gelegt worden
sind: die kritische Reflexion des alltäglichen Umgangs
mit Musik. (Im Unterschied zur Musikdidaktik der frühen
70er Jahre findet bei Scheller diese Reflexion nicht als
„Aufklärungs"- oder „Sensibilisierungs"-Kampagne
statt.)
Der folgende Bericht bezieht sich auf 14 Unterrichtsvorhaben
im Rahmen der einphasigen Lehrerausbildung in Oldenburg.
In einem solchen Unterrichtsvorhaben arbeiten „Kontaktlehrer"
(das sind die einphasigen Mentoren), Studenten und Hochschullehrer
über ca. 2 Semester zusammen. In die Unterrichtsvorhaben
integriert ist ein Schulpraktikum. Der Umfang einer Unterrichtseinheit,
die in den vorliegenden Vorhaben realisiert wurde, betrug
zwischen 12 und 22 Unterrichtsstunden. Ingo Scheller und
ich betreuten von Universitätsseite aus die Vorhaben,
die in den Fächern Deutsch und Musik durchgeführt
wurden.
Doch nun zu den Eigentümlichkeiten von Schellers
erfahrungsbezogenem Unterricht.
2. Aneignung von Erfahrungen durch
musikalische Verständigung über Erlebnisse
Erfahrungen werden g e m a c h t , sie sind Produkte menschlicher
Tätigkeit. Beim Machen von Erfahrungen benötigt
der Mensch seinen Kopf, er muß denken:
Hentig 1973, 21: Erfahrungen erscheinen irgendwo in der
Mitte zwischen (sinnlicher) Wahrnehmung und (theoretischer)
Vorstellung.
Nykrin 1978, 23: „Erfahrungen" können
wir auffassen als von einer Person zum individuellen (personalen)
Handlungs- und Deutungshintergrund verarbeitete Wahrnehmungen
von Reizen, Situationen und Geschehnissen, an denen sie
beteiligt war.
„Erfahrungen entstehen erst in der aktiven, bewußten
Auseinandersetzung mit Erlebnissen'; schreibt Scheller.
Das erste, was der erfahrungbezogene Unterricht leisten
muß, ist die gemeinsame Verarbeitung von Erlebnissen
zu Erfahrungen, denn „erst wo Erlebnisse ... zu
Erfahrungen verarbeitet werden und wo diese Erfahrungen
das eigene Denken und Handeln bestimmen, erst dort kann
man davon sprechen, daß man sich in der tätigen
Auseinandersetzung mit seiner Umwelt als Person, als identisches
Subjekt selbst produziert" (Scheller 1981, 63). Erfahrungen
werden „gemacht", indem sich Schüler gemeinsam
über Erlebnisse verständigen. Diesen Prozeß
nennt Scheller „Aneignung von Erfahrungen"
- was mehr als Erfahrungsaustausch und weniger als eine
Verarbeitung von Erfahrungen ist.
Soll sich der Schüler selbst „produzieren",
so fällt dem Lehrer eine neue Rolle zu, die bereits
Hentig 1973 in vier Punkten beschrieben hat: Der Lehrer
soll ein Vermittler von Informationen, ein Organisator
von Lernsitüätionen, das Modell eines lernenden,
handelnden, genießenden und sich selbst bestimmenden
Menschen und ein Freund sein (Hentig 1973, 37). Hentigs
Lehrer ist kein Vermittler von Erfahrungen! Er ist auch
kein Vermittler zwischen Schüler und Unterrichtsinhalt,
wie es Christoph Richter gesehen hat (Richter I, 25).
Auch für Scheller ist der Lehrer zunächst ein
guter und ideenreicher Organisator, der zum Beispiel als
Spielleiter durchaus autoritär sein kann. Die methodischen
Bemühungen des Lehrers richten sich im wesentlichen
auf Unterrichtsformen, die „Verständigungsformen"
über Erlebnisse sein können. Sprechen, Schreiben,
Literatur-Lesen, Fotografieren und szenisches Spielen
hat Scheller in seinen Schriften ausführlich dargestellt.
Dem szenischen Spiel gibt er neuerdings eindeutig den
Vorzug. Immer wieder heißt es bei Scheller, daß
auch eine musikalische Verständigung denkbar wäre,
vor allem im Hinblick auf Hauptschüler, denen „die
Sprache als (. . .) Verständigungsmittel nicht mehr
ausreicht" (1981, 62).
Aufgrund der Hypothese, daß musikalische Verständigung
über Erlebnisse bei der Aneignung von Erfahrungen
jenseits der Sprache gute Dienste leisten könnte,
haben Scheller und ich die Lehrenden der erwähnten
Unterrichtsvorhaben aufgefordert, möglichst umfassend
musikalische Verständigungsformen auszuprobieren.
Als Vorbereitung hatten wir (nach dreimonatiger Vorbereitungszeit)
eine vierstündige musikalisch-szenische Straßenaktion
durchgeführt, in der wir zahlreiche musikalische
Verständigungsformen losgelöst vom „Zwang",
Musikunterricht abhalten zu müssen, durchgespielt
hatten. Die Erfahrungen, die von den Lehrenden (musikalisch)
angeeignet werden sollten, brauchten n i c h t musikspezifisch
zu sein; denkbar waren auch Themen wie: Außenseiter,
Familie, Junge-Mädchen, Arbeitslosigkeit, Drogen,
Cliquen, Umgangsformen, Vorurteile usw.
Bereits bei der Unterrichtsvorbereitung, spätestens
jedoch nach den ersten Stunden, tendierten die Lehrenden
dazu, zwei Möglichkeiten, das Vorhaben durchzuführen,
eindeutig zu bevorzugen: Entweder wurden die (nicht musikspezifischen)
Erlebnisse zwar mittels Liedern oder Musikstücken
in den Unterricht hereingeholt, die Verständigung
über die Inhalte der Lieder und Stücke vollzog
sich dann aber nicht-musikalisch, überwiegend mit
szenischen Mitteln. Oder die Lehrenden wählten, um
musiknahe zu bleiben, musikspezifische Erlebnisse aus,
verständigten sich aber auch hierüber wiederum
sprachlich oder szenisch. Schematisch dargestellt: |
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Art der Erlebnisse |
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symbolische Zwischenformen des Erlebnisses |
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Art der Verständigung |
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gemachte Erfahrung |
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1. Möglichkeit |
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nicht musikspezifisch |
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musikalisch (Lied u.a.) |
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nicht musikspezifisch (szenisch, sprachlich) |
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nicht musikspezifisch (szenisch, sprachlich) |
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2. Möglichkeit |
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musikspezifisch |
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nicht musikspezifisch |
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nicht musikspezifisch (szenisch, sprachlich) |
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musikspezifisch |
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nicht gewählte Möglichkeit |
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nicht musikspezifisch |
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musikalisch |
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musikalisch |
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nicht musikspezifisch |
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Drei Vorhaben gingen im wesentlichen
so vor, daß Lieder szenisch erarbeitet, d. h. die
Inhalte gespielt wurden. Anschließend wurden die
in den Liedern (von Lindenberg, Mü1lerWesternhagen,
Grips-Theater) abgehandelten Probleme und die Art der
szenischen Interpretation weiterentwickelt, woraus schließlich
ein neues Lied entstand, das einstudiert und vorgeführt
wurde. - Eine ähnliche Unterrichtseinheit hieß
„szenische Darstellung ,engagierter' Lieder".
In sieben Vorhaben wurden musikalische Themen gewählt
(„Stars und Fans" und Musikgeschmack), die
Aneignung entsprechender Erfahrungen aber ausschließlich
über Diskussionen und szenische Spielformen vorgenommen.
Beim szenischen Spiel wurde allerdings auf charakteristische
Weise Musik eingesetzt. Zum Beispiel: Während der
Vorführung sog. Standbilder wurde Begleitmusik passend
eingespielt (vom Gitarrenlied zum Pauken-Rhythmus), um
die emotionale Wirkung der Bilder zu intensivieren.
Drei weitere Vorhaben bearbeiteten Themen wie „Cliquen"
oder „Punks", indem sie ein kleines Theaterstück
ausarbeiteten und vorführten, wobei die Vorführung
mit Musikeinlagen und Liedern durchsetzt war.
Lediglich in einem Vorhaben, von dem ich bereits in Musik
und Bildung 6/82, S. 406, berichtet habe, wurde eine rein
musikalische Verständigung über musikalische
Erfahrungen der Schüler inszeniert. Wir haben im
Sinne kleiner Spielkonzepte das Lied O, du lieber Augustin
kaputt gespielt und anschließend - nun aber wieder
sprachlich! - über Hörerfahrungen mit atonaler
Musik diskutiert. In diesen Musikstunden haben sich die
Schüler die Erfahrungen angeeignet, daß „schräg"
zu spielen sehr lustvoll sein kann, obgleich einem beim
Hören atonaler Musik leicht „die Klappe runter
fällt".
Unsere Beobachtung, daß die Lehrenden offensichtlich
Schwierigkeiten hatten, „rein musikalische"
Verständigungsformen zu finden, weist nicht nur darauf
hin, daß die erwähnte außerschulische
Straßen-Aktion ebenfalls Musik sprachlich und szenisch
funktionalisiert hatte, und daß Scheller und ich
auch nicht ganz genau wußten, was eine „rein
musikalische" Verständigung sein sollte; die
Schwierigkeiten waren auch Anlaß für uns, einige
charakteristische Probleme klarer zu sehen:
(1) Entgegen der Annahme, die Sprache stelle ein vermittelteres
und - vor allem Hauptschülern - weniger zugängliches
Symbolsystem dar, erweist sich musikalische Kommunikation
ohne sprachliche oder szenische Hilfe als entweder zu
ungenau oder zu schwierig. Probleme jugendlicher, jugendliche
Alltags-Erfahrungen und -Erlebnisse sind viel zu differenziert,
um rein musikalisch abhandelbar zu sein. Selbst die musikalische
Verständigung über Erlebnisdimensionen wie Angst,
Einsamkeit, Unruhe, Sehnsucht erfordert sehr elaborierte
Beherrschung des Symbolsystems Musik.
(2) Rein musikalische Verständigungsformen waren
am ehesten möglich, wenn die Erlebnisse selbst immanent-musikalisch
gewesen sind. Die musikalische Verständigung selbst
erforderte aber einen erheblichen technischen und musikdidaktischen
Aufwand (vgl. Stroh 1984, 15-21, im Fall der erwähnten
Spielkonzepte).
(3) So schwer es ist, im Deutsch-, Sozial- oder Erdkundeunterricht
musikalische Verständigungsformen einzusetzen, so
einfach und naheliegend ist es, sich - umgekehrt - im
Musikunterricht musikalische Erfahrungen mit nicht musikspezifischen
Mitteln anzueignen.
(4) Der hohe Anspruch der aktiven, bewußten Aneignung
von Erfahrungen ist schwer mit dem üblichen Musizieren
im Musikunterricht zu vereinen. Allerdings ist dieser
Anspruch wohl deshalb so hoch, weil nur an relativ kurzfristige
Aneignungsprozesse gedacht ist. Volker Schütz weist
darauf hin, daß ja Rockmusik wichtige „Erfahrungen
für die jeweiligen Hörer und Musiker zu organisieren
versucht und mehr oder weniger gelungen zum Ausdruck bringt"
(Schütz 1982, 170); es müsse möglich sein,
solche Erfahrungen auch dadurch anzueignen, daß
Rock musiziert wird - ja, dies sei die einzige Möglichkeit
„Reflexionsprozesse zu initiieren" wegen des
nonverbalen Zugangs jugendlicher zur Rockmusik (Schütz
1984, 71). Hierbei heißt Musizieren allerdings mehr
als das bloß Einstudieren eines Titels: Es ist die
komplette Organisierung solch einer Einstudierung. - Im
übrigen tut es dem Musizieren keinen Abbruch, wenn
man feststellt, daß es zur Aneignung von Erfahrungen
im außerschulischen Umgang mit Musik nur bedingt
geeignet ist. Prozesse der Art, wie Schütz sie meint,
sind in einigen Unterrichtsvorhaben aber durchaus abgelaufen.
Ein Beispiel: Die Klasse hatte zunächst Lindenbergs
Lied Jenny gehört, das damit endet, daß Jenny,
nachdem sie eine Biege nach München gemacht hat,
einen tollen Typen trifft, der Pauker an 'ner Penne ist
und ihr beim Lieben zuflüstert: „wir könnten
zwar los auf never come back, doch die Schule ändern,
das wär der gag!" Die Schlußstrophe des
Schülerliedes hatte eine ähnliche Moral (die
nur peinlicher wirkte, weil sie sprachlich unbeholfener
war):
... doch abhau'n hat doch keinen Zweck,
die Sorgen gehen damit nicht weg.
Wenn wir was ändern wollen,
müssen wir was tun.
Nach einer längeren Diskussion wurde aber diese Strophe
gestrichen. Als Diskussion über die Gestaltung eines
Liedes war dies eine (im weiteren Sinne) musikalische
Problemstellung. Die Schüler überlegten, was
wohl für ein Lied passend ist! Mit dieser Diskussion
haben sie sich aber natürlich auch über Erlebnisse
mit Abhauen, mit Lösungswegen aus familialen Konflikten
verständigt.
3. Aneignung musikalischer Erfahrungen
mit Mitteln des szenischen Spiels
Es hatte sich herausgestellt, daß eine rein musikalische
Verständigung über nicht musikspezifische Erlebnisse
nur unter sehr speziellen Bedingungen möglich und
kaum leichter zugänglich als sprachliche Verständigung
ist. Dennoch konnten musikalische Mittel die sprachliche
oder szenische Verständigung erleichtern, verbessern
oder - im Extremfalle - erst ermöglichen. Doch selbst
dann, wenn eine Verständigung durch Musik erst ermöglicht
wurde, war die Verständigung selbst nicht (im strengen
Sinne) musikalisch.
Der Zwang, im Unterricht unbedingt musikalisch kommunizieren
zu müssen, war wie verflogen, wenn die Lehrenden
musikalische Erfahrungen, genauer: Erfahrungen der Schüler
beim Umgang mit Musik, aufarbeiten wollten. Erfahrungen,
die bearbeitet wurden, lauteten: Musikhören zu Hause,
Ausgehen-Dürfen, musikalische Symbole von Cliquen,
Haltungen von Musikern, Verhalten von Fans, musikalische
Bekannt- und Freundschaften, Begegnungen mit Stars, Exotik
und Abwehr von Punk-Rock, Musikfernsehen in der Familie
u. a. Die Bearbeitungsformen waren überwiegend szenische
- wobei der gesamte Katalog der von Scheller angeführten
Formen vorkommen konnte -, Musik kam aber fast immer in
irgendeiner Weise hinzu. Indem sich die Schüler überlegten,
wie sie in einem Spiel musikalische Mittel einsetzen könnten,
arbeiteten sie bereits mit Erfahrungen im (außerschulischen)
Umgang mit Musik.
Es muß hier nochmals auf eine Unterscheidung hingewiesen
werden, die Scheller in seiner Konzeption trifft: Die
Aneignung von Erfahrungen und die Verarbeitung von Erfahrungen
wird getrennt. Im allgemeinen schließt sich an die
Phase der Erfahrungsaneignung eine Unterrichtsphase der
Erfahrungsverarbeitung an. Während die Aneignung
von Erfahrungen zunächst lediglich eine Verständigung
unter den Schülern und zwischen Schülern und
Lehrer darstellt, weitet sich der Gesichtskreis mit der
Verarbeitung. Im Idealfall ermöglicht die Verarbeitung
von Erfahrungen es dem Schüler, einen „gesellschaftlich
reflektierten Standpunkt" zu beziehen (Scheller 1981,
66).
Die „Musikalisierung" des erfahrungsbezogenen
Unterrichts spielte sich also durch den Übergang
von der Aneignungs-Phase zur Verarbeitungs-Phase ab. Die
musikalische Verarbeitung von Erfahrungen war einfacher
zu organisieren als die musikalische Aneignung. Dies lag
sicherlich zunächst daran, daß die Verarbeitung
stets mit irgendeiner Art der Vorbereitung auf eine Veröffentlichung
verbunden war. Solch eine Veröffentlichung konnte
ein öffentliches Theaterstück, aber auch ein
selbst gemachtes Lied (das vielleicht auf Tonband aufgenommen
oder gemeinsam gesungen wurde) sein.
In 12 der 14 beobachteten Unterrichtsvorhaben zeigte die
Phasenfolge Aneignung-Verarbeitung-Veröffentlichung
eine deutliche Tendenz der „Musikalisierung":
1. Phase (Aneignung von Erfahrungen) - Thema: musikalische
Erlebnisse, |
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Verständigung über diese
Erlebnisse mit musikunspezifischen Mitteln, überwiegend
szenischem Spiel, |
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bisweilen unterstützender Einsatz von Musik
bei diesem szenischen Spiel (Verwendung von Liedern,
Hintergrundsmusik). |
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2. Phase (Verarbeitung von Erfahrungen) |
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sprachliche, szenische und musikalische
Unterrichtsformen in etwa gleicher Gewichtung, |
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bei produktbezogener Verarbeitung überwiegt
rein musikalische Tätigkeit: Liedermachen,
Einstudieren passender Musik, Verwendung von Musik
in Theaterszenen. |
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3. Phase (Veröffentlichung von Erfahrungen) |
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n einigen Fällen primär
musikalische Veröffentlichungsformen (Vorführung
eines eigenen Lieds mit szenischer Verdeutlichung),
in anderen Fällen Theaterspiel mit Musik oder
Zusammenstellung von Tonbandabschnitten einzelner
musikalischer Teilergebnisse (z. B. verschiedene
Kompositionen beim Thema „Musikgeschmack"). |
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Die „Musikalisierung'; das heißt
die deutliche Zunahme musikalischer Verarbeitungsmittel,
fand meist im Hinblick auf die Veröffentlichung statt.
Die intensivere Arbeit mit musikalischen Fragen und Formen
war weniger durch die nonverbalen Chancen musikalischer
Verständigungsweisen, sondern vielmehr durch den
sinnlichen Reiz musikalischer Elemente in Vorführungen
aller Art hervorgerufen. Ich bezweifle, ob diese Art der
„Musikalisierung" die Art von Verarbeitung
von Erfahrungen ist, die Scheller ursprünglich gemeint
hat. Bei der Erfahrungs-Verarbeitung im Sinne Schellers
soll ja der individuelle Standpunkt der Schüler gesellschaftlich
relativiert werden, es sollen die Hintergründe, die
Ursachen und Bedingungen der gemachten Erfahrungen erkannt
und es sollen Handlungsperspektiven diskutiert und erprobt
werden. Die Arbeits-Phasen der beobachteten Unterrichtsvorhaben
waren aber überwiegend Phasen des Ubens, Probens,
Instrumentierens und Organisierens. Gesellschaftliche
Perspektiven gerieten nur zufällig - wie im erwähnten
Beispiel der Diskussion um einen Lied-Schluß -,
nicht jedoch systematisch ins Blickfeld.
Diese Art der „Musikalisierung" ist glücklicherweise
nicht d a s Kriterium eines gelungenen Musikunterrichts
im Sinne Schellers. (Wäre das der Fall, so müßte
guter Musik- ein schlechter Sozialkundeunterricht sein.)
Es kommt vielmehr darauf an, daß die Unterrichtstätigkeit,
in welcher Form auch immer sie sich abspielt, musikalisch
motiviert ist. Und musikalische Motive sind nicht auszuschließen,
auch wenn typische Musikunterrichts-Formen fehlen. Dies
liegt im Mechanismus des erfahrungsbezogenen Unterrichts.
Die Aneignungs-Phase ist k e i n e Motivations-Phase im
üblichen Sinn. Das Ziel dieser Phase ist die Herstellung
gemeinsamer Erfahrungen, auf die sich nachfolgende Lernprozesse
beziehen können. Dem Prinzip des Erfahrungs-Lernens,
wie es bereits von Hentig dargestellt hat (1973), widerspricht
es, daß die Schüler vom Lehrer motiviert werden
müssen. Wenn der Lehrer Lernsituationen organisiert,
so werden in diesen Situationen die Schüler genauso
weit lernen, wie ihre Motivation reicht. Allerdings entwickeln
sich Motive im Verlauf der Tätigkeit weiter, und
daher nimmt Scheller - ohne es zu erwähnen - an,
daß sich das Motiv, sich über Erlebnisse verständigen,
also Erfahrungen machen zu wollen, zum Motiv, Erfahrungen
auch verarbeiten und veröffentlichen zu wollen, weiter
entwickelt. Aber nichtsdestotrotz ist die Herstellung
solcher Motive n i c h t das Ziel der Aneignungsphase.
Musikpädagogen täuschen sich meines Erachtens
viel zu oft (und oft viel zu systematisch) über die
Motive der Schüler. Wer die eingangs aufgezählten
Erfahrungs-Tatsachen (S. 145) zur Kenntnis nimmt, wird
nicht ausschließen dürfen, daß Schüler
auch dann musikalisch motiviert sind, wenn sie schlaff
und untätig sind. Motive können ja erst dadurch
sichtbar werden, daß sie in irgendwelchen Handlungen
realisiert werden. Fehlt es aber an Handlungsmöglichkeiten
und geeigneten Rahmenbedingungen, so können sich
vorhandene - zugegebenermaßen oft diffuse und ungenaue
- Motive nicht zeigen (Ziehe 1980, 117).
Der erfahrungsbezogene Musikunterricht läßt
die Frage der Motivation zunächst außer acht.
Er gibt - positiv ausgedrückt - den Schülern
die Gelegenheit, zu beweisen, daß sie bereits musikalisch
motiviert sind aufgrund einschlägiger musikalischer
Erfahrungen. Dem Lehrer kommt die Aufgabe zu, Bedingungen
zu schaffen, in denen sich diese Motive entfalten können.
Daher spielt in einem Unterricht, der mittels musikunspezifischer
Methoden musikalische Erfahrungen verarbeitet, dennoch
die Musik eine zentrale Rolle. Denn der Lehrer läßt
den musikalischen Motiven Raum. Es ist daher auch wieder
kein Zufall, daß die Veröffentlichungen der
von uns beobachteten Unterrichtsvorhaben sehr musikalisch
gewesen sind!
4. Die Vermittlung außerschulischer
und schulischer Erfahrungen
Eine bestimmte musikalische Handlung, der Vollzug des
„Umgangs mit Musik" kann Erfahrungen ermöglichen,
stellt aber nicht automatisch eine Erfahrung dar. Andererseits
können verschiedene Handlungen, verschiedene Umgangsweisen
mit Musik diesselbe Erfahrung ermöglichen und vermitteln.
Dies macht sich der erfahrungsbezogene Unterricht zunutze:
Sicherlich ist ein Rollenspiel nicht die Wirklichkeit,
die gespielt wird; sicherlich ist ein von einer Klasse
gespieltes Rockstück kein „wirkliches"
Rockstück ... und dennoch können die entsprechenden
Erfahrungen diesselben sein.
Es muß in jedem Einzelfall überlegt und analysiert
werden, ob eine schulische Handlung wirklich dieselbe
Erfahrung vermittelt, die die zugehörige außerschulische
Handlung vermittelt hätte - ob, mit anderen Worten,
zwischen der schulischen und außerschulischen Erfahrung
eine Übereinstimmung in den pädagogisch wichtigen
Dimensionen besteht. Drei Beispiele zur Erläuterung:
(1) Die „musikpädagogische Rockmusik"
Wenn Theodor W Adorno heute eine Schulklasse hören
würde, wie sie ein Rockstück nach einem Volker
Schütz'schen Modell spielt, so würde er das
sicherlich als „musikpädagogische Rockmusik"
bezeichnen. Mit Sicherheit klingt „richtige"
Rockmusik anders als das Produkt eines Wahlpflichtkurses,
das ich zum Schuljahrsende an einer südoldenburgischen
Schule hörte. Und dennoch haben die Schüler
sich, den Mitschülern und den Eltern rockmusikalische,
„richtige" Erfahrungen vermittelt. Als weiterer
Programmpunkt war bei dieser Feier die Darbietung einer
Akkordeongruppe vorgesehen. Obgleich diese Musik absolut
„authentisch" war und einigen Anwesenden auch
ein entsprechendes Erlebnis vermittelte, werden nur ganz
wenige der anwesenden Schüler dabei musikalische
Erfahrungen gemacht haben. Die Verständigung über
das „musikpädagogische" Rockstück
indessen verlief unter den meisten Schülern sehr
intensiv: Die jugendlichen drängelten sich vorne
an der Bühne, sie forderten da capo, sie waren außer
Rand und Band - obgleich die Vorführung ein Kümmerling
gegenüber allem war, was jenen Schülern täglich
über die Medien vermittelt wird.
Ich mußte das Fazit ziehen: Auch wenn die Aufführung
selbst noch weit von „richtigen" rockmusikalischen
Erlebnissen entfernt war, so kann sie dennoch „richtige"
rockmusikalische Erfahrungen vermitteln. Perfekt dargebotene
Shanties, Akkordeonmärsche und Kirchenlieder konnten
keine wirklichen musikalischen Erfahrungen mehr vermitteln.
(2) Im Schutz des szenischen Spiels werden auch tabuisierte
Meinungen geäußert.
In einer 9. Realschulklasse wurde ein Unterrichtsprojekt
zum Thema Diskothek durchgeführt. Einleitend inszenierte
der Lehrer ein Rollenspiel, in dem eine Disco-begeisterte
Tochter sich mit ihren Eltern um den Zeitpunkt des Nachhausekommens
streitet. Im Schutze dieses Spiels und einer anschließenden
Auswertung polarisierte sich die Klasse in zwei Fraktionen:
diejenigen, die selbst in Discos gehen, und diejenigen,
die alle Disco-Geher verachten, weil sie selbst „sinnvollere"
Hobbies haben (Modellflugzeugbau, Sportverein, Musizieren).
In der Rolle von Vater und Mutter trug die zweite Fraktion
energisch ihre tatsächliche Meinung vor, was sie
ohne Rollenspiel niemals gemacht hätte. Auch nach
beendetem Spiel konnten die „Hobbyisten" recht
erfolgreich dem „moralischen" Druck der angeblich
fortschrittlicheren Disco-Geher standhalten. Ohne dies
Rollenspiel wären die Hobbyisten die ganze Unterrichtseinheit
über wahrscheinlich stumm geblieben.
Auch in diesem Fall hat das szenische Spiel der Darstellung
wirklicher Erlebnisse und der gemeinsamen Aneignung von
Erfahrungen mit Freizeitbeschäftigungen gedient,
obgleich die szenische Aufarbeitung von allen als ein
„Spiel" erkannt worden war.
(3) Interpretation von szenischen Darstellungen.
Eine „Verständigung" über szenisches
Spiel gelingt nur, wenn das Spiel auch verstanden wird.
„Verstehen" heißt dabei nicht notwendig,
daß die Zuschauer nur das bemerken, was der Spieler
bewußt darstellt, sie können durchaus auch
etwas bemerken, was dem Spieler nicht bewußt ist.
Oft wird von Eigenschaften, die ein Schüler als Darsteller
einer Figur zeigt, auf tatsächliche Eigenschaften
des Schülers geschlossen. Ich finde das sehr problematisch;
Scheller meint allerdings, daß zumindest auf der
Ebene der „Haltungen" solche Schlüsse
zulässig sind (Scheller 1982, 230-244), sofern man
die Wirkung der Haltung eines Spielers auf die anderen
beobachtet. Für eine ausreichende Interpretation
sind meist Zusatzkenntnisse erforderlich (die man sich
meist leicht beschaffen kann). Zum Beispiel:
Eine Schülerin ordnet vier Mitschüler zu einem
„Standbild" (Scheller 1983), das eine Rockgruppe
darstellt (vgl. Abb. 1). Die Art und Weise, wie sie die
einzelnen Spieler modelliert, kann bedeuten, |
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daß sie die Musiker gerne in
der modellierten Weise sehen möchte, aber durchaus
weiß, daß die Musiker anders sind; |
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daß sie die Musiker tatsächlich in
der modellierten Weise sieht, obgleich sich die
Musiker in Wirklichkeit anders verhalten; |
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daß sie die Musiker zwar gerne anders sehen
würde, sie aber dennoch so modelliert, wie
sie wirklich sind; |
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daß sie die Musiker so modelliert, wie sie
einzelne Schüler, die diese Musiker darstellen,
gerne sehen möchte ... |
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In diesem Fall haben wir allerdings nicht
die hier genannten Möglichkeiten abgefragt, sondern
die Schüler mit dem Standbild arbeiten lassen. Niemand
mußte sprachlich sagen, wie er die Anordnung der
Figuren findet, sondern jeder, der etwas „sagen"
wollte, konnte das Bild ummodellieren (Abb. 2).
Der Prozeß des Umformens i s t die „Verständigung"
über die mit den dargestellten Haltungen verbundenen
Erlebnisse. Scheller nennt diesen Verständigungsprozeß
nach A. Boal „in Bildern denken" (Boal 1979,
71).
Bei dieser non-verbalen Art der Verständigung können
erstaunliche musikalische Lernprozesse und Auseinandersetzungen
mit musikimmanenten Problemen stattfinden. So konnten
wir anhand mehrerer Videoaufnahmen der Schülerarbeit
an einer szenischen Darstellung eines Popmusiktitels feststellen,
daß im Verlauf der Arbeit nicht nur die Haltungen
der Spieler realistischer, musikalisch richtiger, körperlich
bewegter und rhythmisch präziser wurden, sondern
daß die Abfolge der Szenen und Haltungen sich immer
besser der musikalischen Struktur und Gliederung des Titels
einfügte. Im Prinzip hatten die Schüler bei
dieser Arbeit eine produktbezogene Formanalyse eines Musikstücks
hergestellt und zugleich bemerkt, wozu eine solche Analyse
gut sein kann.
5. Anmerkungen zur Forschungsmethode
Der Erkenntnisgewinn im Rahmen der hier vorgestellten
umfangreichen Beobachtung von Musikunterricht ist selbst
so etwas wie erfahrungsbezogenes Lernen: Die Jeweiligen
Unterrichtsstunden stellen „Erlebnisse" dar,
über die sich die (forschenden) Hochschullehrer mit
den Unterrichtenden in anschließenden Gesprächen
„verständigen". Nach der sechswöchigen
Phase der Unterrichtspraxis schließt sich für
Hochschullehrer, Kontaktlehrer und Studenten eine universitäre
Auswertung an, in der die Erfahrungen „verarbeitet"
werden. Nicht nur schriftliche Berichte, Bilderausstellungen
und die öffentliche Vorführung von Video-Filmen
und Tonbandmitschnitten, sondern auch der vorliegende
Vortrag stellen eine „Veröffentlichung"
der verarbeiteten Erfahrungen dar.
Weder die Kriterien einer „sauberen" Unterrichtsbeobachtung,
noch eine Reduktion des Problems „erfahrungsbezogener
Unterricht" auf evaluierbare Teilprobleme hat stattgefunden.
Was heißt es überhaupt, daß sich „ein
Schüler als identisches Subjekt (selbst) produziert"
(Scheller 1981, 63)? Genügt es da zu beobachten,
daß Unterricht „gut läuft'; daß
er den Schülern Spaß macht und die Lehrenden
zufrieden sind? - Nein! - Wichtiger sind da schon Beobachtungen
an den Veröffentlichungen der Schüler, genauere
Untersuchungen der schriftlichen Berichte der Lehrenden
... und ein ganzes Stück Theorie über den Zusammenhang
von sichtbaren menschlichen Handlungen, musikalischen
Tätigkeiten und der Entwicklung der Schüler-Persönlichkeit.
Der vorliegende Aufsatz hat alle diese Aspekte nicht berücksichtigt.
Als Unterrichtsforscher hatten Scheller und ich zwei Gegenüber
(mit einer Ausnahme, wo ich selbst unterrichtete): die
Lehrenden (Kontaktlehrer und Studenten) und die Schüler.
Unsere Ideen mußten sich zuerst bei den Lehrenden
durchsetzen. Da diese relativ autonom arbeiteten und zunächst
im Unterricht überleben und höchstens in zweiter
Linie die Forschung fördern wollten, war dies überhaupt
nicht selbstverständlich. Da wir keine systematische
und operationalisierte Unterrichtsbeobachtung durchführten,
sondern zunächst auch unseren Betreuungsaufgaben
im Rahmen der Lehrerausbildung nachzukommen, den Unterricht
also unter vielfältigen Aspekten anzusehen hatten,
erreichten uns Schüleräußerungen oft auch
auf dem Umweg über die Lehrenden. - Dennoch meine
ich, daß die „unsaubere" Art, Erfahrungen
mit Musikunterricht in recht komplexen Zusammenhängen
zu machen und zu verarbeiten, aufgrund ihrer Realitätsnähe
auch zahlreiche Vorteile hat - und zumindest zum Nachdenken
anregt.
Literatur
Boal, A.: Theater der Unterdrückten, Frankfurt/M.
1979 (ed. suhrkamp 987). Hentig, H. von: Schule als Erfahrungsraum?,
Stuttgart 1973.
Nykrin, R.: Erfahrungserschließende Musikerziehung,
Regensburg 1978. Rauhe, H.: Zwei Dutzend Kanäle -
und wer übt Klavier?, in: nmz 4/1984. Richter, Chr.:
Hermeneutische Grundlagen der didaktischen Interpretation
von Musik, dargestellt am Tristan Vorspiel, Teil I, in:
Musik und Bildung 11/1984; Teil II, in: Musik und Bildung
12/1984.
ders.: Schülerorientierung ohne didaktische Interpretation?,
in: Musik und Bildung 6/1984 (eine Erwiderung auf: Stroh,
W M.: Der Tantris mit sorgender List sich nannte ... Hermeneutische
Interpretation und Schülerorientierung, ebenda).
Scheller, L: Erfahrungsbezogener Unterricht, Königstein/Ts.
1981.
ders.: Alte und neue Sinnlichkeiten. Und wie man in der
Schule damit umgehen kann, Westermanns Päd. Beiträge
11/1980.
ders.: Arbeit an Haltungen, oder: Über Versuche,
den Kopf wieder auf die Füße zu stellen - Überlegungen
zur Funktion des szenischen Spiels, in: R. Scholz und
P Schubert (Hg.): körpererfahrung. die wiederentdeckung
des körpers: theater, therapie und unterricht, Reinbek
1982.
ders.: In Bildern denken oder Über die Arbeit mit
Standbildern, Ms. Oldenburg 1983. Schütz, V: Zur
Methodik rockmusikalischen Musizierens im Klassenverband,
Teil I, in: Musik und Bildung 7-8/1981.
ders.: Rockmusik - Eine Herausforderung für Schüler
und Lehrer. Oldenburg 1982.
ders.: Rockmusik im Unterricht - eine neue Form der musischen
Erziehung?, in: F. Ritzel und W M. Stroh (Hg.): Musikpädagogische
Konzeptionen und Schulalltag. Versuch einer kritischen
Bilanz der 70er Jahre, Wilhelmshaven 1984.
Stroh, W M.: Szenisches Spiel im Musikunterricht, in:
Musik und Bildung 6/1982.
ders.: Arnold Schönberg und das Prinzip „Kunstmusik",
in: Musik im 20. Jahrhundert, hg. von J. Hodek und S.
Schutte, Arbeitsbuch für die Sekundarstufe II, Stuttgart
1984.
Terhag, J.: Die Un-Unterrichtbarkeit aktueller Pop- und
Rockmusik, in: Musik und Bildung 5/1984.
Ziehe, Th.: Zur gegenwärtigen Motivationskrise jugendlicher,
in: Psychische Konflikte - Jugendliche in der Pubertät.
Kursmodelle 1, Pädagogische Stelle Dortmund, Dortmund
1980 (Nachdruck eines Referats von 1976). |
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